Ungewöhnliches tat sich am 10. Juni auf einer Internet-Pressekonferenz des Busbauers Alexander Dennis aus dem schottischen Larbert: er stellte mit seinem neuen Doppeldecker „Enviro 500 EV Charge“ den größten Elektrobus der Welt vor.
Zur Vorgeschichte
Alexander Dennis ist der Welt größter Hersteller von Doppeldeckern und verkauft diese Art von Bussen in sehr viele Länder dieser Erde, sehr gerne in solche, die einmal Teil des britischen Empire waren. Wie zum Beispiel Hong Kong. Was sich ja wohl darauf zurückführen dürfte, dass „ADL“ (Alexander Dennis Limited) eben selber aus Großbritannien kommt, und das Vereinigte Königreich ist ja zweifellos der „Hot Spot“ schlechthin für Doppeldecker. – Seit 2020 gehört Alexander Dennis zur kanadischen „New Flyer“-Gruppe, übrigens zusammen mit dem ebenfalls britischen Reisebusbauer Plaxton. (Um 1980 stellte Plaxton mal einen Reisewagen auf der IAA in Frankfurt aus, aber ach, zu exotisch sah der Wagen für unseren kontinentaleuropäischen Geschmack aus … Das hat sich unterdessen deutlich geändert.)
Der Sprung auf den europäischen Kontinent gelang ADL erst vor kurzem. Immerhin konnte man inzwischen Doppeldecker an den Schweizer Postbus (in Schweizer Landen „Postauto“ geheißen) verkaufen, und seit November vergangenen Jahres laufen die beiden ersten „Alexander Dennis Enviro 500“ bei der Berliner BVG (Wagen 3550 und 3551). Wobei die BVG unterdessen weitere 199 Wagen dieses Typs in Larbert in Auftrag gegeben hat. Die Berliner Wagen zeichnen sich durch eine eher ungewöhnliche Besonderheit aus: für ihren Vortrieb sorgen Motoren von Mercedes. Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte man vermutlich sowohl bei ADL den Gedanken an Motoren von Mercedes weit von sich gewiesen als auch bei Mercedes nicht im Traum daran gedacht, diesem britischen Hersteller Motoren zu liefern.
Wegen des Brexits war einige Zeit lang nicht klar, wo Alexander Dennis die Wagen für Berlin bauen werde. Spekulationen schossen ins Kraut: würden die Schotten die Busse im Lohnauftrag in der Türkei fertigen lassen? Doch inzwischen ist klar: alle bislang von Berlin bestellten Wagen werden aus Larbert kommen.
Im Oktober 2015 präsentierte ADL seinen ersten batterie-betriebenen Elektro-Doppeldecker. Auf der „Busworld“ in Kortrijk stand ein Wagen im typischen Londoner Rot, dessen elektrischen Antrieb BYD aus China beigesteuert hatte. Und damit wurde eine enge Kooperation in Sachen Batteriebusse zwischen Alexander Dennis und BYD begründet.
Zum neuen Enviro 500 EV Charge
Auf den ersten Blick beeindruckt der neue Elektro-Doppeldecker von Alexander Dennis durch respektheischende Ausmaße. Er ist ein 13,7 Meter langer Dreiachser, sichtlich ein naher Verwandter der Berliner Wagen. Aber anders als die Berliner Wagen hat er nur zwei Türen in Bug und Wagenmitte. Der Prototyp ist für den US-amerikanischen Markt bestimmt, hierhin und nach Kanada hat ADL seit 2001 mehr als 1200 Doppeldecker geliefert. Aber Alexander Dennis hat weit mehr mit dem Neuen vor, und dabei erweist sich eine große Flexibilität der Konstruktion als hilfreich: so soll es ihn in verschiedenen Höhen von 3.90 Metern (für den japanischen Markt), von 4,00 Metern (Kontinental-Europa, zum Beispiel Schweizer Post), 4,06 Metern („Berliner Höhe“) über weitere Zwischenschritte bis hin zu 4,40 Metern geben – was wohl nur noch für ehemalige Mitgliedsländer des britischen Empire in Frage kommt.
Der präsentierte Prototyp bietet 82 Sitzplätze. Das scheint für einen Wagen mit einer Länge von 13,7 Metern gar nicht einmal so viel zu sein, aber der Prototyp zeichnet sich auch durch eine sehr komfortabele Bestuhlung aus.
Der Zusatz „Charge“ in der Typenbezeichnung ist das Kennzeichen des New-Flyer-Konzerns für die batterie-elektrischen Busse aller zum Konzern gehörenden Bushersteller. „Charge“ means (bedeutet) 100 % Elektro.
Für den Vortrieb sorgt der „Ax-Trax“-Antrieb von ZF. Zwei Radnabenmotoren mit einer Leistung von je 125 Kilowatt sind – eher ungewöhnlich – in der dritten Achse eingebaut. Die ist eine Elektro-Portalachse und stammt natürlich auch von ZF. Und weil die dritte Achse angetrieben ist, ist sie keine „Nachlaufachse“, sondern die ungelenkte zweite Achse ist eine „Vorlaufachse“. Die Kombination aus ungelenkter Vorlauf- und dritter Antriebsachse wirke sich positiv auf die Gewichtsverteilung im Fahrzeug aus. An der Vorderachse, die ebenfalls von ZF kommt, zeichnet der Enviro 500 EV Charge sich durch Einzelradaufhängung aus.
Der Prototyp ist ein Depotlader. Er verbringt den Tag auf seiner Linie und wird während der nächtlichen Betriebspause auf dem Betriebshof wieder aufgeladen. Das geschieht über Kabel mit CCS-Combo-Stecker. Alexander Dennis gibt die Reichweite des Wagens mit mindestens 250 Kilometern an, und zwar auch dann, wenn Heizung und / oder Klimaanlage, die ebenfalls elektrisch betrieben werden, mit voller Leistung laufen. Dabei unterstützt eine elektrische Wärmepumpe. – Alexander Dennis erwägt, den Enviro 500 EV Charge auch als „Opportunity-Charger“ anzubieten, der während des Einsatzes auf der Linie – zum Beispiel über Pantograph – nachgeladen werden kann.
Seinen Fahrstrom speichert der Enviro 500 EV Charge in Batteriezellen, die ihren Platz unter dem Wagenboden gefunden haben. Was den Wagen trotzdem einen Niederflurbus sein lässt. Alexander Dennis gibt an, dass der Fußboden des Wagens wegen der Batteriezellen unter dem Boden nur um 4 Prozent höher eingebaut werden müsse. Die Batteriezellen haben eine Kapazität von 648 kWh.
Auch für Berlin?
Bleibt abzuwarten, ob und wann die ersten „Alexander Dennis Enviro 500 EV Charge“ auch in Berlin fahren werden. Wie hieß es kürzlich aus dem Haus der BVG? „Jetzt geht es mit dem Elektrobus richtig los. Es läuft zurzeit bei uns eine große Ausschreibung, und wir sind sehr gespannt, welches Ergebnis die haben wird. Es gibt am Markt sehr interessante Angebote, auch von ganz neuen Herstellern, die richtig gut sind.“
