EU-weit lag der Anteil von Bus, Metro, Tram und U-Bahn am motorisierten Personenverkehr 2022 bei 17 Prozent, in Deutschland sogar bei nur 15 Prozent [I]. Im Nachbarland Österreich waren nach Erhebungen der Europäischen Kommission 28 Prozent zu verzeichnen und in Dänemark immerhin noch 20 Prozent. Während auf dem Land der Privat-PKW oft noch die einfachste, wenn auch nicht sauberste Lösung ist, wurde das Auto in urbanen Zentren zur Belastung. 2024 ergab eine Studie unter 2.500 Teilnehmenden aus Deutschland, dass mehr als die Hälfte der Befragten die Überlastung der Innenstädte als größtes Problem sieht, gefolgt von Luftverschmutzung und Staus [II]. Dabei geht es nicht darum, dem Auto den Kampf anzusagen, sondern dessen Nutzung auf ein Minimum zu reduzieren, beispielsweise durch den Ausbau des ÖPNV- und Radverkehrsangebotes und durch vorausschauende Stadtplanung.
Wie Forschung, öffentliche Hand und Verkehrsbetriebe die Mobilität von morgen gestalten – POLIS Jahreskonferenz in der Messe Karlsruhe
Seit inzwischen fast 25 Jahren ist die Annual POLIS Conference Treffpunkt für europäische Städte und Regionen und deren Verantwortliche in Stadt- und Verkehrsplanung, um diese Herausforderungen gemeinsam anzugehen und sich zu Best Practices auszutauschen. Dieses Jahr findet die Konferenz am 27. und 28. November nach 14 Jahren wieder auf deutschem Boden in Karlsruhe statt. Und das nicht ohne Grund: Karlsruhe gilt als eine der deutschen Vorreiterinnen für nachhaltige Mobilität und zentraler Forschungsstandort zu diesem Themengebiet. Seit diesem Jahr ist die „Karlsruhe Region“ Mitglied im POLIS-Netzwerk.
Gastgeber der idesjährigen Konferenz ist das Land Baden-Württemberg, Ausrichtende sind die Stadt Karlsruhe und die Messe Karlsruhe. Die Konferenz wird durch das seit 1989 bestehende POLIS Netzwerk organisiert, in dem neben Metropolen wie Paris und London auch kleinere Städte und Regionen vertreten sind. Tickets gibt es auf der Webseite unter https://www.polisnetwork.eu/2024-annual-polis-conference/. Die Anmeldefrist endet am 12. November.
Im Rahmen der Annual POLIS Conference stellen die Karlsruhe Player einige ihrer Projekte vor, am Stand des Karlsruhe Mobility Lab ebenso wie im Konferenzprogramm. Die Themen reichen dabei von Luftqualität und Klimaschutz (27.11., 9 Uhr) bis zu autonomem Fahren (27.11., 16.45 Uhr). Verschiedene Exkursionen am 28.11. um 14 Uhr stellen unter anderem das Radwegenetz vor, die Kombilösung oder das neue VBK-Elektrobusdepot.
Ein Ausschnitt der Projekte in der Region:
Zukunft Nord – Quartiersentwicklung und integrierte Verkehrsplanung
Noch ist das 27 Hektar große Areal im Norden Karlsruhes eine Brachfläche. In Zukunft soll das Quartier „Zukunft Nord“ 1.500 Wohnungen und Lebensraum für 3.400 Menschen bieten – unter der Maßgabe der sogenannten 5-Minuten-Stadt und als nachhaltig mobiler Stadtteil. „Eine integrierte Stadt- und Verkehrsplanung betrachtet Mobilität von Anfang an mit,“ so Prof. Dr. Anke Karmann-Woessner, Amtsleiterin des Karlsruher Stadtplanungsamts. „Ziel ist, nach der 3 V-Regel, (Auto-) Verkehr zu vermeiden oder ihn zu verlagern und den übrigen Autoverkehr verträglich zu gestalten.“ Für Zukunft Nord heißt das konkret, das neue Quartier so zu gestalten, dass Arbeit, Bildung, Einkauf, Kinderbetreuung oder Freizeit in wenigen Minuten fußläufig erreichbar sind. Ergänzt werden soll diese Struktur durch eine gute Anbindung an den ÖPNV sowie ein attraktives Netz an Rad- und Fußwegen. Im Idealfall sollen Autofahrten und im besten Fall der Besitz eines eigenen PKWs vermieden werden. Privatautos werden von der Straße oder wohnungsnahen ebenerdigen Stellplatzbereichen in gemeinschaftliche Tiefgaragen verlegt. „Wenn ein Stellplatz sogar genauso weit von meiner Wohnung entfernt ist wie eine ÖPNV-Haltestelle, steigt die Hemmschwelle, das Privatauto für kurze Strecken zu nutzen,“ so Prof. Dr. Karmann-Woessner.
Das klingt zunächst nach einem Zwang zum Umstieg, doch für Stadtplanende ist seit Jahrzehnten klar, dass es eine „Weiter so-Taktik“ in Sachen urbanem Autoverkehr nicht geben kann – Lärm- und Emissionsausstoß sowie Staus sind für viele Bürgerinnen und Bürger zur Belastung geworden. Laut einem Bericht der EU-Umweltbehörde EEA sind in Deutschland etwa ein Viertel der Menschen von Verkehrslärmbelastung betroffen [III]. In Karlsruhe ist der Wandel von der autogerechten Stadt hin zu einer stadtverträglichen und nachhaltigen Mobilität bereits seit Jahrzehnten in vollem Gange. Kaum vorstellbar, dass der heute rein von Fußgängern genutzte Marktplatz mit hoher Aufenthaltsqualität noch in den 70er Jahren ein PKW-Parkplatz war.
Transformation auch historisch gewachsener Siedlungsstrukturen
Ein Beleg, wie auch bei etablierten innerstädtischen Arealen neue Wege moderner Mobilität möglich sind, ist die Karlsruher Kombilösung: eines der „bedeutendsten Infrastrukturprojekte Baden-Württembergs,“ so Schirin Redzepovic, Pressesprecherin der Verkehrsbetriebe Karlsruhe. Ein Stadtbahntunnel sowie ein Straßentunnel mit darüber liegender Stadtbahntrasse sorgen nicht nur für ein schnelleres Ankommen, sondern haben in weiten Teilen der Innenstadt die Mobilität unter Tage verlegt, die Aufenthaltsqualität über Tage optimiert und das Verkehrsaufkommen in der Stadt insgesamt reduziert. „Auch die Erweiterung der City nach Süden hat neue Potenziale freigesetzt, von der die Stadt und ihre Bürgerinnen und Bürger profitieren“, so Redzepovic – entstanden sind Bürokomplexe, Wohnungen, Grünflächen und Geschäfte und das bei bester ÖPNV-Anbindung.
Neben den Vorzügen solcher stadt- und verkehrsplanerischen Projekte für die urbanen Zentren ist in Karlsruhe auch das Umland im Blickfeld der Planer: 66.000 Menschen pendeln nach Karlsruhe ein [IV]. Das Karlsruher Modell, das vom damaligen Leiter der Verkehrsbetriebe Karlsruhe (VBK) und der Albtal-Verkehrs-Gesellschaft (AVG), Dieter Ludwig, erfunden wurde, steht seit 1992 für eine Lösung, die inzwischen weltweit im Einsatz ist: die Möglichkeit für speziell konzipierte Stadtbahnen, auch das Eisenbahnschienennetz zu nutzen. Dieses Tram-Train-System verknüpft die innerstädtischen Straßenbahnstrecken mit regionalen Eisenbahnstrecken, ohne dass ein Umstieg von der Straßenbahn auf den Zug nötig wäre – gerade im Hinblick auf Pendlerbewegung ein Standortvorteil und ein gutes Argument, den Privat-PKW gegen öffentliche Angebote einzutauschen.
Die Verknüpfung der Stadt Karlsruhe mit der umliegenden Region hat sich auch der Regionalverband Mittlerer Oberrhein auf die Fahnen geschrieben. Verbandsdirektor Dr. Matthias Proske: „Die Raum- und Siedlungsstruktur schafft die Grundlagen dafür, wie Menschen sich vor Ort bewegen können. Gleichzeitig beeinflussen aber auch die Verkehrsinfrastruktur und das Mobilitätsverhalten, wie Räume genutzt und entwickelt werden. Wichtig ist zu verstehen, welche Wechselwirkungen zwischen Verkehrsverhalten, Siedlungsstruktur und Siedlungsentwicklung bestehen.“ Die Regionalplanung schafft dabei die Grundlagen, Mobilität weiterzuentwickeln, gerade auch im Hinblick auf wirtschaftliche Entwicklung und Lebensqualität. Dabei wirken sich die Festlegung von Straßen, Bahntrassen oder Radwegen unmittelbar auf die Verkehrsnetze aus, während eine integrierte Siedlungs- und Verkehrsplanung im Blick hat, wie Städte gebaut werden und wie Siedlungen optimal mit dem öffentlichen Nahverkehr verknüpft werden können. „Im neuesten Entwurf des Regionalplans wurden zum Beispiel Schienen- und Radschnellverbindungen als Freihaltetrassen festgelegt. Das bedeutet, dass diese Strecken vor einer konkurrierenden Nutzung freigehalten werden“, so Dr. Proske.
Der Infrastruktur-Ausbau und die Gestaltung neuer Mobilitätsräume sind dabei nur ein Teil, um nachhaltige Mobilität voranzutreiben. Drängender ist die Herausforderung, dass der urbane Raum begrenzt ist, klassische ÖPNV-Angebote zu Stoßzeiten an ihre Grenzen kommen und gleichzeitig ländliche Gegenden nicht oder nur unzureichend bedient werden können. Die Konsortialpartner in der POLIS-Mitgliedschaft, Stadt Karlsruhe, Regionalverband und der Karlsruher Verkehrsverbund (KVV), sind drei von elf Partnern, die sich dieser Herausforderungen mit einer digitalen Lösung angenommen haben: regiomove.
Intermodal und on-demand: Integrierte Lösungen, die den Umstieg erleichtern
Bereits 2017 erfolgte der Startschuss für das Projekt regiomove, das Verkehrsmittel verschiedener öffentlicher und privater Anbieter in einer App zusammenführt. Das Angebot reicht von Straßenbahn und Bus bis zum Car- und Bike-Sharing und On-Demand-Verkehr zur Erschließung von Gegenden mit geringer ÖPNV-Abdeckung – inklusive Routenplanung und Ticketing. Das intermodale System, das 2020 ausgerollt wurde und nun vom KVV geführt wird, verzeichnet rund 150.000 Nutzende, die in der Mobilitätsplattform aktiv sind. Inzwischen ergänzen Mobilitätsports an wichtigen Knotenpunkten in der Region die App. Diese Ports bieten vor Ort Zugang zur regiomove-Plattform und werden individuell an die Standorte angepasst, ausgestattet mit Fahrradservice, Stellplätzen oder Schließfächern. Ihr Ziel: Nutzenden den Umstieg zwischen den verschiedenen Verkehrsmitteln zu erleichtern.
Die Idee von serviceorientierten Ports an zentralen Umsteigepunkten greift auch das Karlsruher Forschungsprojekt Country2City Bridge auf. Auch hier sollen die Anknüpfung verschiedener Verkehrsmittel und die Stadt-Land-Verbindung verbessert werden. „Wir erforschen, wie eine optimale Kombination von autonomen Fahrzeugkonzepten und dem klassischen ÖPNV sowie deren Übergänge gestaltet werden können. Ebenso soll die Auswirkung solcher Systeme auf die städtische und verkehrliche Entwicklung untersucht werden“, sagt Dr. Matthias Vollat, der das Projekt unter Federführung des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und in enger Zusammenarbeit mit der Albtal-Verkehrsgesellschaft leitet. In Zukunft sollen auch Kommunen und weitere Wissenschaftler eng mit eingebunden werden. Die Idee: Mithilfe einer entsprechenden Software-Lösung sollen Fahrgäste in ländlichen Regionen ein autonomes Fahrzeug on-demand bestellen können, das sie zuhause oder in unmittelbarer Nähe abholt und zum nächsten Mobilitätshub am Stadtrand bringt. Von dort ist ein Umstieg ins klassische ÖPNV-Netz möglich. Dabei soll ein Algorithmus sicherstellen, dass die autonomen Fahrzeuge zwar auch andere Passagiere mittransportieren können, aber die Route dabei nur minimal verändert werden darf, um große Umwege und Zeitverluste zu vermeiden.
Damit das Angebot eine wirkliche Alternative darstellt, müssen Flexibilität und Zuverlässigkeit mit der des Privat-PKW vergleichbar sein. Dr. Matthias Vollat: „So wie es bei der Paketverfolgung in Teilen schon möglich ist, den Routenverlauf des Fahrzeugs live zu verfolgen, möchten wir auch eine genaue Verfolgung jenes Fahrzeugs ermöglichen, das für meine Abholung vorgesehen ist.“ Letztendlich ist der Kunde derjenige, der das neue System annehmen muss. Im Laufe des kommenden Jahres will Vollat daher mit einem Prototyp auch die Bevölkerung mit einbeziehen. Und wie kann sich die Country2City Bridge im Falle ihrer Umsetzung auf Siedlungsräume auswirken? „Bei der Einführung des Karlsruher Modells hat sich gezeigt, dass sich relativ schnell um die neuen Stadtbahnhaltestellen Siedlungsgebiete entwickelt haben. Für die Coutry2City Bridge könnte ein ähnlicher Effekt entstehen.“
(Info: Messe Karlsruhe)
[I] Statistical Pocketbook 2024: EU Transport in figures, S. 47ff.
[II] TÜV Mobility Studie 2024, S. 50.
[III] Environmental Noise in Europe 2020, S. 24.
[IV] Bundesagentur für Arbeit: Pendleratlas 2023.
05.11.2024