Wir hatten im Februar 2021 über Urbanloop berichtet und ein Jahr später den neuesten Stand beschrieben. Im Jahr 2017 wurden an der Universität von Lothringen unter der Beteiligung von 186 Informatikstudenten, Überlegungen angestellt, wie man denn für kleinere Städte, Universitätsgelände, Einkaufszentren, Flughäfen und deren Parkplätze, ein modernes, schnelles und umweltfreundliches Personentransportsystem entwickeln könnte. So wurden zuerst die Marktanforderungen festgelegt und anschliessend die wichtigsten Rahmenbedingungen als Leitlinien definiert. Die Aufgabenstellung lautete: „Ein neues öffentliches Verkehrsmittel zu entwickeln, das eine individuelle Mobilitätssteigerung ohne Halt, ohne Wartezeit und ohne Umsteigen erbringt, um die Nutzung des Autos in städtischen und vorstädtischen Gebieten wirksam zu bekämpfen.“
Von Anfang an war klar, dass Urbanloop nicht nur eine akademische Übung sein sollte, sondern das Ziel war klar die konkrete Umsetzung. Urbanloop wurde darauf zielgerichtet erarbeitet, indem zunächst die Informatiklösung mit Hilfe künstlicher Intelligenz als Kernstück des Systems entwickelt und in einem kleinen Modellversuch wie in einer Spielzeugeisenbahn getestet wurde. Eine Zusammenfassung über die Funktionsweise des innovativen Systems gibt es hier:
Unter der Führung des Informatik-Professors Jean-Philippe Mangeot, der inzwischen ihr Direktor geworden ist, wurde die Unternehmung Urbanloop SAS als Start-up in Tomblaine bei Nancy gegründet. Dank der Unterstützung durch interessierte Unternehmen und des politischen Wohlwollens der Behörden konnte dort rasch eine Versuchsstrecke in wahrer Grösse erstellt werden.
Diese demonstrierte die Machbarkeit des Prinzips. Urbanloop SAS wurde vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron als eine der 125 besten Start-up-Unternehmungen ausgezeichnet. Im Rahmen eines Förderprogramms des französischen Staates konnten schon 2021 zwei Aufträge für kleine Anlagen mit Fahrgastbetrieb gebucht werden. In der Zwischenzeit hat die Firma Urbanloop SAS bereits 5 Patente und beschäftigt zwei Dutzend Mitarbeiter. In Rekordzeit, nur sieben Jahre von der ersten Idee bis zur ersten Inbetriebnahme mit Fahrgästen, ist nun die 2 km lange Strecke in Saint-Quentin-en-Yvelines, einem der Austragungsorte der Olympischen Spiele in Paris am 27. Juli 2024 in Betrieb genommen worden, nachdem sie von der französischen Zulassungsstelle STRMTG für den Fahrgastbetrieb homologiert wurde. Das ist ein olympischer Rekord, man denke daran dass es andernorts länger dauert, wenn für eine bestehende Strecke nur schon eine Flottenmodernisierung erfolgen soll. Die Fahrgäste benutzen eine der zehn kleinen automatischen Urbanloop-Kapseln. Die Anlage wird über die Olympischen Spiele hinaus bis Ende 2025 im Betrieb bleiben um Erfahrungen zu sammeln.
Wie wir bereits berichteten, ist Urbanloop ein System, das Personen in kleinen pneubereiften Kapseln für zwei Personen automatisch auf leichten Schienen befördert, die aus Winkelprofilen bestehen, deren horizontaler, nach innen gerichteter Schenkel als Fahrbahn dient. Dabei fahren die Kapseln ohne Halt von der Einstiegshaltestelle zu ihrer Zielhaltestelle an allen anderen Haltestellen auf einem Durchgangsgleis ohne Halt vorbei. Die Haltestellen befinden sich jeweils auf einem Ausweichgleis.
Die Weichen sind passiv, das heisst sie haben keine beweglichen Teile und die Steuerung entscheidet durch das Herabsenken von Führungsrollen an der Aussenseite der vertikalen Schenkel der Winkelprofile ob die jeweilige Kapsel auf dem geraden Gleis weiterfahren oder auf die Ausweiche fahren soll. Das ganze wird von einer künstlichen Intelligenz gesteuert, die Erfahrungswerte der Benutzung der Haltestellen aufgrund verschiedener Kriterien, wie Erschliessungszeit von Einkaufszentren, Schulschluss, Wetter usw. auswertet. Diese stellt jeweils an den Haltestellen genügend leere Kapseln bereit. Damit wird ein sehr schneller Betrieb, in den meisten Fällen ohne Wartezeit für den Fahrgast, sichergestellt. Einsteigen und losfahren ist das Motto. Die kleinen Kapseln für zwei sitzende Personen, die auch ein Fahrrad, einen Kinderwagen oder einen Rollstuhl aufnehmen können, haben natürlich einen sehr kleinen Querschnitt und erlauben damit auch kostengünstige Tunnelunterquerungen von Strassen.
Die Fahrzeuge sind voll elektrisch und werden über die beiden Schienen mit der niedrigen Gleichspannung von 72 Volt gespiesen, was keine weiteren besonderen Sicherheitsmassnahmen gegen elektrische Schläge notwendig macht. Die Ortung und Geschwindigkeitskontrolle der Kapseln geschieht millimetergenau über ein einfaches aber wirksames System, dessen passive Elemente am Gleis angebracht sind und das durch Odometrie und Geolokalisierung ergänzt wird. Dies ermöglicht einen sogenannten fliegenden Block und sogar die Bildung von virtuellen Zügen, auch Platooning genannt. Die hohe Reisegeschwindigkeit im Vergleich zum Bus- oder Autoverkehr erlaubt es, die Urbanloop-Transportanlagen in Form von eingleisigen Ringlinien mit Verkehr nur in einer Richtung anzuordnen, was insbesondere eine bessere Erschliessung von Wohnquartieren erlaubt. Die Ringe können miteinander verbunden werden so dass ein ganzes Netz entsteht. Auch in grösseren solchen Netzen braucht es keine festgelegten Linien mit Umsteigen, sondern alle Verbindungen geschehen durch direkte Fahrten, dadurch dass die Kapseln von einer zur anderen Ringlinie übergehen können. Linienpläne und Fahrpläne erübrigen sich. Das Ganze ist nach einem Baukasten-Prinzip ausgelegt, die Schienen können leicht montiert und demontiert werden. Sie bestehen aus standardisierten Gleiselementen für Gerade, Kurven und Weichen. Damit kann jede beliebige Gleiskonfiguration erzeugt werden, Ausbauten und Streckenänderungen oder auch nur für kürzere Zeit betriebene Netze sind einfach zu bewerkstelligen. Dazu kommen abhängig von der Grösse des Netzes eine oder mehrere Energieversorgungsanlagen, die informatik-basierte Sicherheits- und Betriebssteuerung sowie ein kleiner Betriebshof. Urbanloop kann dank seines geringen Gewichts auf jeder Art von Untergrund eingesetzt werden. Dies macht Urbanloop zu einer idealen Lösung für nachhaltige Mobilität, da es nahtlos in die bestehende Umgebung integriert werden kann, ohne sie wesentlich zu stören oder zu verschlechtern.
Als nächstes wird bis 2027 eine 7 km lange Anlage (in beide Richtungen) mit 7 Haltestellen und 40 Kapseln entlang einer aufgegebenen Bahnstrecke im Zentrum der Stadt Nancy im Osten Frankreichs gebaut. Sie wird auf einer seit Jahren stillgelegten, SNCF-Eisenbahnstrecke, von einem Parkplatz in Maxéville als Zubringer zur zukünftigen Trolleybuslinie verkehren. Die schmalen Fahrzeuge und die geringe Lärmbelästigung des Systems mit 63 dbA bei 50 km/h ermöglichen es, gleichzeitige einen Rad- und Fussgängerweg entlang der Linie zu schaffen. Die Linie wird begrünt und es wird ampelgesicherte Fussgängerüberwege geben. Dort werden die Kapseln mit Schrittgeschwindigkeit fahren. Ortsfeste und fahrzeugseitige Sensoren werden die Anwesenheit von Personen überwachen und die Fahrzeuge notfalls anhalten. Dieses System wurde bereits auf der Demonstrationsstrecke in Tomblaine getestet und ist vom STRMTG zugelassen. Urbanloop wird Strassen in kleinen Tunnels unterqueren.
Man kann gespannt sein ob das Konzept andernorts Anklang findet. Urbanloop ist eine kostengünstige Lösung, lässt sich an eine grosse Vielfalt von Anforderungen anpassen und erlaubt, Verkehrsströmen zu steuern, Siedlungen optimal zu planen, und dies bei einer attraktiven Transportgeschwindigkeit und ständigen Verfügbarkeit, ohne CO2-Emissionen und mit der Möglichkeit das Gleis zu begrünen. Dank des vollautomatischen Betriebs umgeht man die Suche nach den heute knappen Busfahrern.
Gemäss Angaben von Urbanloop sind Gespräche mit etwa 60 potenziellen Kunden im Gange, darunter grosse französische Industriestandorte sowie städtische und ländliche Gemeinden in Gebieten mit unterschiedlichen geografischen Gegebenheiten, aber auch in Osteuropa und im Nahen Osten. In Frankreich werden die politisch vorangetriebenen zukünftigen SERM-Projekte verfolgt, da Urbanloop perfekt in diese Dynamik passt, indem es eine echte Alternative zum Verkehr mit schweren Fahrzeugen ist und ein einfach einzufügendes System bietet. SERMs sind multimodale Mobilitätsprojekte (Zug, Strassenbahn, Bus, Fahrrad, …). Sie sollen den Menschen in den Städten und Vororten zur Verfügung gestellt und um ein Eisenbahn-Rückgrat herum aufgebaut werden.
Auch auf technischer Ebene schreitet Urbanloop rasch voran. Zahlreiche potentielle Kunden wünschen eine höhere Transportkapazität als die für zwei Personen konzipierten Kapseln, und so wird derzeit wir eine sechsplätzige Kapsel mit vier Sitz- und zwei Stehlätzen entwickelt, die auf den gleichen Gleisen fahren kann. Die savoyische Stadt Annecy interessiert sich dafür. Darüber hinaus wird an einer Version als Einschienenbahn mit höherer Kapazität gearbeitet, mit der es noch leichter werden soll, Urbanloop in bestehende Bebauungen einzufügen. Urbanloop als spurgeführtes System auf Eigentrassee muss dennoch in der Lage sein, andere Verkehrsträger in städtischen und stadtnahen Gebieten einzubeziehen. Um dies zu erreichen, entwickelt das Team ein Sicherheitssystem namens „CROSS“ für Fussgänger- und Strassenkreuzungen.
Man kann erwarten, dass auf der Grundlage der Informatiklösung aus Lothringen noch weitere Umsetzungen für verschiedene Transportanforderungen im Personenverkehr und vielleicht auch in der städtischen Logistik folgen werden, freuen wir uns auf Überraschungen.
20.08.2024