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Darmstadt: Fahrerassistenz-Systeme und ferngesteuerter Betrieb für Straßenbahnen

Die "InnoTram" auf dem Betriebshof | © Christian Marquordt

Ein Forschungsprojekt von HEAG, Technischer Universität und den Fahrzeugbauern

Für den 3. Mai 2023 hatte Darmstadts Verkehrsbetrieb HEAG Vertreter der regionalen Politik und der Nahverkehrs-Fachpresse zu einem bemerkenswerten Termin auf ihren Betriebshof im Stadtteil Eberstadt eingeladen. Vorgestellt wurde eine Straßenbahn, die dank Fahrersassistenz-Systemen in der Lage ist, wenigstens teilweise autonom unterwegs zu sein.

Versuchsträger ist Triebwagen 0783 der HEAG, ein 16 Jahre alter achtachsiger Doppelgelenk-Niederflur-Triebwagen für Einrichtungsbetrieb des Herstellers Bombardier (seit 2021 Alstom) aus dem Jahr 2007. Die Lieferserie umfasst insgesamt 18 Triebwagen mit den Betriebsnummern 0775 bis 0792.

Triebwagen 0783 ist schon seit 2019 im Rahmen des Projekts MAAS auf den Bahnlinien der HEAG unterwegs. MAAS steht dabei für „Machbarkeitsstudie zur Automatisierung und zu Assistenzsystemen von Straßenbahnen.“ Er ist mit Kameras und Sensoren ausgestattet worden und sammelt seither im normalen Linienbetrieb der HEAG Daten. Beantworten soll er die Frage, wie die fortschreitende Digitalisierung den ÖPNV auf der Schiene unterstützen kann. Oder wie die HEAG es in ihrer Pressemitteilung formuliert: „Wie sieht der Straßenbahnverkehr der Zukunft aus?“

In ihrem Grußwort sagte HEAG-Geschäftsführerin Ann-Kristina Natus: „Die Anforderungen an unser Fahrpersonal steigen. Vor diesem Hintergrund haben wir uns gefragt, wie wir unsere Mitarbeiter noch besser unterstützen können.“

Die „InnoTram“ auf dem Betriebshof | © Christian Marquordt


Neue Assistenzsysteme und teleoperiertes Fahren

Die Bahn ist mit Assistenzsystemen ausgestattet worden, die aus dem Automobilbau seit langem bekannt sind und sich dort längst bewährt haben. So zum Beispiel mit einem Bremsassistenten, der die Bahn automatisch stoppt, sobald die Sensoren und Kameras ein Hindernis auf den Schienen erkennen. Dass dies mit einer Notbremsung bis zum absoluten Stillstand funktioniert, wurde mit der Attrappe eines Pkw demonstriert, die plötzlich vor der Bahn auftauchte. Und die stand zuverlässig, und zwar mit ausreichendem Sicherheitsabstand zu jenem „Auto“. Der Bremsassistent hat sich so gut bewährt, dass er in den neuesten Bahnen der HEAG bereits serienmäßig eingebaut wird.

Tw 0783 hat außerdem den aus dem Automobilbau seit langem bekannten Side-Guard-Assist, der erkennt, ob sich im toten Winkel neben der Bahn ein Radfahrer, ein Fußgänger oder ein Auto befindet. Auch hier wird die Bahn gebremst, bevor es zum Unfall kommt. Als Beispiel wurde folgende Situation geschildert: rechts neben der Bahn fährt ein Auto. Das beschleunigt, um noch vor der Bahn über deren Schienen hinweg zu wenden. Das sei, so hieß es, eine im Straßenbahnverkehr relativ häufige Unfallursache. Doch der Side-Guard-Assist stoppt die Bahn und lässt es nicht zum Unfall kommen.

Noch einen segensreichen Effekt hat der Side-Guard-Assist: Es kommt nicht zu Flankenfahrten zwischen zwei Bahnen. Der Side-Guard-Assist wurde in Zusammenarbeit mit der Firma „Continental Engineering Company“ entwickelt. Continental, ist das nicht der Reifen-Hersteller aus Hannover? Doch der Mitarbeiter von Continental sagte bei der Präsentation: „Wir können längst mehr als nur Reifen.“

Dank der Kameras und Sensoren kann die Bahn auch „teleoperiert“ fahren. Will sagen, es ist kein Fahrer an Bord, der Triebwagen wird von einem Bedienungs-Platz außerhalb der Bahn gefahren. Auch das wurde während der Präsentation demonstriert, Tw 0783 drehte Runden auf dem Betriebshof, ohne dass jemand auf seinem Führerstand gewesen wäre.

So sehen die Assistenzsysteme eingebaut in der Bahn aus | © Christian Marquordt


Hier allerdings zeigt sich einstweilen noch eine Schwäche des teleoperierten Fahrens: noch ist es ganz einfach im öffentlichen Verkehrsraum nicht zugelassen. Zu lang sind – im Vergleich zu einem Auto, Lkw oder Bus – die Bremswege einer Bahn, dementsprechend weit müssten Kameras und Sensoren „vorausschauen“ können, und zu groß wäre das Risiko, daß sich doch noch ein Hindernis in den Weg schiebt, bevor die Bahn den vorausgesehenen Punkt erreicht. Also teleoperiertes Fahren bislang nur bei Rangierfahrten auf dem Betriebshof – weiter ist die Technik noch nicht.

Frage: Kann denn wenigstens ein einzelner Mitarbeiter mehrere Bahnen ferngesteuert bedienen? Aber nein, das geht auch nicht. Der Mitarbeiter am Fernbedienungsplatz muss sich ganz auf die Bahn konzentrieren, die er gerade fährt.

Die Bildschirme am Arbeitsplatz für das ferngesteuerte Fahren, die runden Monitore geben die Bilder der Fisheye-Kameras wider | © Christian Marquordt
Platzierung der Assistenzsysteme an der Bahn | © HEAG


Die Ausrüstung des Triebwagens für den Betrieb mit den Fahrerassistenten

Für den Einsatz mit den Fahrerassistenten und im ferngesteuerten Betrieb ist Triebwagen 0783 mit zahlreichen Lidaren, Radaren, Kameras der verschiedensten Systeme und einem Ultraschallgerät ausgestattet worden. Auf dem Dachrand oberhalb der Frontscheibe findet sich eine „normale“ Kamera, die für den Blick rund 100 Meter vor die Bahn zuständig ist, um Hindernisse schon frühzeitig zu erkennen. Die nähere Umgebung wird mit „Fisheye-Kameras“ mit extremen Weitwinkel-Objektiven beobachtet, die zeigen, was im unmittelbaren Umfeld der Bahn passiert.  Stereo-Kameras setzen ein detailliertes Bild zusammen, eine Infrarot-Kamera reagiert im Dunkelen auf Wärmesignale, die von einem eventuellen Hindernis ausgehen. Ultraschall wird von möglichen Hindernissen reflektiert. Und Lidare und Radare erkennen den Fahrweg.

„Blickwinkel“ der Kameras | © Continental Engineering Service   
 

Die Projektpartner

Das Projekt MAAS wurde und wird technisch und wissenschaftlich begleitet und betrieben von der Stadt Darmstadt, ihrem Verkehrsbetrieb HEAG, der Technischen Universität Darmstadt (Fachbereich FZD = „FahrZeugtechnik Darmstadt“), Alstom sowie der Deutschen Telekom und der Continental Engineering Company. In den Grußworten hieß es, vor allem je zwei Mitarbeiter des FZD der Technischen Universität und der HEAG hätten nicht locker gelassen, wenn sich einmal Probleme aufgetan hätten.  

Aus MAAS wird InnoTram

Die Tests und Versuche mit Tw 0783 werden natürlich weiter fortgesetzt. Wobei die Bahn jetzt den neuen Namen InnoTram bekommen hat. Sie wird mit weiteren Assistenz-Systemen ausgestattet. So spielt ein „Head.up-Display“ dem Fahrer Informationen zu seiner Bahn auf die Innenseite der Windschutzscheibe, die der Fahrer lesen kann, ohne seinen Blick von der vor ihm liegenden Strecke abwenden zu müssen.

Fazit

Bei der Präsentation am 03. Mai zeigte die Bahn eindrucksvoll, dass der Einsatz von Fahrerassistenzsystemen auf einer Straßenbahn sehr wohl möglich ist und funktioniert. Und dass eine Straßenbahn auf dem Betriebshof auch problemlos ferngesteuert unterwegs sein kann. Hier hat die Bahn vom Bus gelernt, der Assistenzsysteme schon seit ein paar Jahren kennt. Und der – zum Beispiel in Skövde bei Göteborg und in Paris – auch völlig alleine zu seinem Abstellplatz auf dem Betriebshof fährt. Der Fahrer kommt (schon heute) mit dem Bus auf den Hof, steigt aus, und der Bus steuert ganz alleine seine Parkposition an.

Anders als der Bus wird eine Bahn voraussichtlich noch nicht schon in wenigen Jahren völlig autonom im Verkehr unterwegs sein können. Zu schwierig sind die Probleme zu lösen, dass eine Bahn einen zu langen Bremsweg hat und – bedingt durch die Schienen – auch nicht „schnell mal“ ausweichen kann. Zitat von der Präsentatiion: „Wenn der SUV vor der Bäckerei in das Profil der Bahn hineinragt, kann der Fahrer aussteigen, in die Bäckerei gehen und darum bitten, dass der SUV mal etwas zur Seite fährt. Und wer sagt bei einer autonomen Bahn in der Bäckerei Bescheid?“        

09.05.2023
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