
Lange Zeit galt insbesondere im Ruhrgebiet bei der ÖPNV und Schienenverkehrsplanung folgender Grundsatz: Die Straßen- beziehungsweise Stadtbahn gehört unter die Oberfläche. Dies sollte nicht nur den schienengebundenen ÖPNV beschleunigen, sondern war auch eine Vorleistung sein für das seit den 1950er und 1960er Jahren geplante, Rhein-Ruhr-weite U-Stadtbahnnetz, welches aufgrund finanzieller und ökonomischer Faktoren letztlich nie umgesetzt wurde. Ergebnis ist ein Flickenteppich von Niederflur- und Hochflur-Stadt- und Straßenbahnsystemen, teilweise meter- und normalspurig, zwischen Dortmund, Düsseldorf und Köln/Bonn.
Während vielerorts die Straßenbahn in den Tunnel verbannt oder teilweise gleich komplett stillgelegt wurde, blieb an der Oberfläche meistens eins: viel Platz für mehrspurige Straßen und für das Auto. Ob sich die Lebensqualität in den entsprechenden Städten dadurch verbessert hat, sei dahin gestellt und ist sicher von Fall zu Fall abhängig.
Im Mai 2020 hat die Lokalpolitik des mitten im Ruhrgebiet liegenden Essen einen Meilenstein in der ÖPNV-Planung entschieden: die Straßenbahn der
582.000 Einwohner zählenden Stadt soll zurück an die Oberfläche – zumindest auf einem Streckenabschnitt. Unter dem Projektnamen „Citybahn“ hat der Stadtrat die Wiedereinführung der Straßenbahn in der Essener Stadtmitte auf die Agenda gebracht. Das seit Jahren geplante Projekt geht jetzt in die Realisierung. Im Jahr 2025 sollen die ersten Bahnen fahren. Mehr dazu unten.
Der Düwag ZR-Sechsachser 1727 im Jahr 1977 auf der Linie 5 (Frintrop – Rellinghausen) am Porscheplatz I © Christian MarquordtGT6 Nr. 44 aus Bochum hat soeben den Porscheplatz erreicht I © Christian Marquordt Mülheimer GT6 im Jahr 1977 auf dem Essener Porscheplatz I © Christian Marquordt
M8S Triebwagen 1020 Mitte der 1970er Jahre auf der Linie 12 (Haarzopf – Bahnhof Kray-Nord) am Porscheplatz I © Christian Marquordt
Ein Blick zurück
Zunächst aber ein Blick zurück: Essen begann vergleichsweise früh mit der „Tieferlegung“ seiner Straßenbahnstrecken, um die Innenstadt „straßenbahnfrei“ zu machen und den Individualverkehr nicht zu behindern. Als erste entstand eine 600 m lange Unterpflasterstrecke im Zuge der Huyssenallee zwischen Hauptbahnhof und Bredeneyer Straße. Am 5. Oktober 1967 wurde die erste 600 m lange U-Straßenbahnstrecke mit der unterirdischen Haltestelle Saalbau eröffnet. Die Verbindung an die Oberfläche wurde mittels provisorischer Rampen sichergestellt. Ab 1971 begann schließlich der Bau der Tunnelstrecken im Stadtzentrum und am Hauptbahnhof. Die unterirdische Normalspurstrecke der U18 und die meterspurige Tunnelstrecke auf dem Abschnitt Saalbau – Porscheplatz gingen am 28. Mai 1977 in Betrieb. Am selben Tag wurden auch die oberirdischen Strecken Hauptbahnhof – Beiseweg sowie aufgrund der Umstellung auf Stadtbahnbetrieb die 5,5 km lange Strecke Beiseweg – Holsterhauser Platz – Margarethenhöhe stillgelegt.

Es folgten die Tunnelstrecken:
- 1981: Bismarckplatz – Planckstraße (Normalspur)
- 1981: Hirschlandplatz – Universität Essen (Normalspur)
- 1985: Porscheplatz – Viehofer Platz (Meterspur)
- 1986: Saalbau – Florastraße (Dreischienengleis für Meter- und Normalspur)
- 1991: Porscheplatz – Krupp Hauptverwaltung (Meterspur)
- 1998: Universität Essen – Altenessen Bf (Normalspur)
- 2001: Altenessen Bf – II. Schichtstraße (Normalspur)
Seitdem besteht das Essener U-Bahnnetz aus einer Art Dreieck mit drei Umsteigeknoten am Essener Hbf, Berliner Platz und Porscheplatz. Der Porscheplatz und die Innenstadt sind im Wesentlichen seit 1991 straßenbahnfrei.
Die Straßenbahn verschwand hier 1977: GT8 auf dem nördlichen Essener Bahnhofsvorplatz in der Innenstadt. In Bildmitte ein Büssing Senator der EVAG. 2025 sollen an dieser Stelle wieder Straßenbahnen verkehren I Sammlung UTM
Historische Ansichtskarte des Essener Hauptbahnhofs mit Bochumer Einrichtungs-GT6 auf der Gemeinschaftslinie 1 von Essen nach Gelsenkirchen Hbf (über GE-Horst) ,
rechts unten ein Setra der 10er Baureihe, gebaut Ende der Sechziger Jahre I Sammlung UTMHaltestelle Freiheit hinter dem Essener Hauptbahnhof in den 1960er Jahren mit GT6 Straßenbahnen und Henschel HS 160 USL-G-U Bus. Dabei handelt es sich um einen der relativ wenigen Henschel Gelenkbusse der Bundesbahn (Henschel HS 160 USL-G – U für Unterflurmotor) I Sammlung UTM Der Essener Bahnhofsvorplatz mit Bochumer GT6 und Henschel HS 160 USL-G der Bundesbahn I Sammlung UTM
Die Citybahn
Mit der Citybahn kommt 2025 die oberirdische Straßenbahn zurück in die Innenstadt. Sie erobert sich damit den Bahnhofsvorplatz zurück, reiht sich wieder ein in das historische Bau-Ensemble von Handelshof, Hauptpost, Haus der Technik und Eickhaus. Ihr Comeback macht den Übergang vom Bahnhof in die Innenstadt aus dem Essener Westen und Osten attraktiver. Am 28. Mai 2020, wurden die Planungen für den Bau des ersten Abschnitts der Citybahn im Essener Bau- und Verkehrsausschuss beschlossen.
Seit 1977 straßenbahnfrei: Nördlicher Bahnhofsvorplatz im Sommer 1955 I
© Fotoarchiv Ruhr MuseumSolo fahrender Düwag Vierachser 1570 im Jahr 1977 am Porscheplatz I © Christian Marquordt Als die Straßenbahn noch über den Porscheplatz führte, war hier viel Straßenbahnverkehr I © Christian Marquordt Eine Zeit lang gab es in Essen die unterirdische Stadtbahn und Straßenbahn an der Oberfläche gleichzeitig – Mülheimer Vierachserzug in Essen I © Christian Marquordt
Die Citybahn wird auf einer etwa fünf Kilometer langen oberirdischen Straßenbahnstrecke zwischen den Haltestellen „Bergmühle“ und „Betriebshof Stadtmitte“ geplant. Die Strecke der Citybahn verknüpft damit den neuen Stadtteil Essen 51. mit der Innenstadt und schafft darüber hinaus eine Verbindung von West nach Ost bis in den Stadtteil Essen-Steele, wie der Essener Nahverkehrsplan es vorsieht. Acht oberirdische Haltestellen sind geplant, zwei weitere bereits bestehende werden überarbeitet. Ebenso wie für die Stadtentwicklung ist auch für die Planer und Macher des Betreibers Ruhrbahn der Bau einer neuen Straßenbahnstrecke ein großes Ereignis: Zuletzt freute sich die Ruhrbahn vor sechs Jahren über die neue Strecke am Berthold-Beitz-Boulevard. Über den 1,3 Kilometer langen Abschnitt im Westviertel und in Holsterhausen rollten die ersten Straßenbahnen der Linie 109 im Oktober 2014.

„Mit dem Bau der Bahnhofstangente gelingt uns ein wichtiger Lückenschluss im Nahverkehrsnetz der Stadt Essen. So stärken wir den ÖPNV als attraktive und umweltfreundliche Alternative zum Individualverkehr. Die neue Citybahn als Ost-West-Trasse bindet zukünftig nicht nur den Stadtteil ‚Essen 51.‘ an, sondern verbessert auch die direkte Linie der östlichen Stadtteile in Richtung Innenstadt. Damit gewinnen wir gleichzeitig neue Angebote für unseren ÖPNV“, so Oberbürgermeister Thomas Kufen.
Ruhrbahn-Geschäftsführer Uwe Bonan ergänzt: „Mit der Citybahn wird eine Direktverbindung von Huttrop und Südostviertel bis zum Essener Hauptbahnhof geschaffen. Lange Zeit wurde das von den Bürgern und der Politik gewünscht. Heute ist diese Verbindung nur durch Umsteigen möglich.“ Zudem steigen die Einwohnerzahlen der Metropole im Herzen des Ruhrgebiets stetig. Den Linien im ÖPNV sind jedoch Kapazitätsgrenzen gesetzt. „Die Citybahn ist eine Bypass-Lösung für unser Straßenbahnnetz. Nur mit ihr können wir die wachsenden Fahrgastzahlen, die wir für die nächsten Jahre erwarten, bedienen und die Kapazitäten der Tunnelanlagen für den U-Bahnverkehr voll ausschöpfen“, so Michael Feller, Geschäftsführer Ruhrbahn.
Bis 2035 will die Stadt Essen einen Modal Split von jeweils 25 Prozent in den Bereichen ÖPNV, Radverkehr, Fußverkehr und Motorisierter Individualverkehr erreichen. Die Citybahn ist hierfür ein wichtiger Baustein – denn sie trägt wesentlich dazu bei, den ÖPNV in Essen weiterzuentwickeln. Dazu Simone Raskob, Geschäftsbereichsvorstand Umwelt, Verkehr und Sport der Stadt Essen: „Um einen Modal Split von 25 Prozent für den ÖPNV in Essen zu erreichen, müssen wir in die Infrastruktur und das Angebot investieren. Die CITYBAHN ist ein wesentliches Element, um dieses Ziel bis 2035 zu verwirklichen.“
Bis Dezember 2022 sollen die notwendigen Planfeststellungen und Gremienbeschlüsse herbeigeführt werden, so dass 2023 mit dem Bau begonnen werden kann. Zum Fahrplanwechsel im Mai 2025 soll die Strecke in Betrieb gehen.
Kosten des Projektes
Die von der Stadt Essen und der Ruhrbahn ermittelten Gesamtkosten für den dritten Abschnitt des Berthold-Beitz-Boulevards und die Bahnhofstangente werden auf rund 89 Millionen geschätzt. Bund und Land wollen die Stadt Essen und die Ruhrbahn bei der Realisierung des Projektes durch die Bereitstellung von Fördergeldern unterstützen.

Das geplante Linienkonzept mit der neuen Citybahn im Jahr 2025 I © Ruhrbahn/ Stadt Essen
Der geplante Betrieb
Auf der neuen Strecke werden nach heutigen Planungen drei Straßenbahnlinien verkehren:
- Die Straßenbahn-Linie 101 wird zukünftig von Borbeck kommend durch das Stadtquartier ESSEN 51. über den Berliner Platz Richtung Hauptbahnhof und nach Rellinghausen verkehren.
- Die Straßenbahn-Linie 105 wird von Frintrop über den Berthold-Beitz-Boulevard zum Hauptbahnhof und weiter Richtung Steele geführt.
- Die Straßenbahn-Linie 108 wird von Bergeborbeck durch das Stadtquartier ESSEN 51. über den Berthold-Beitz-Boulevard und Hauptbahnhof fahren und wendet am Betriebshof Stadtmitte. Die Straßenbahn-Linie 108 wird somit die komplette oberirdische Neubaustrecke passieren.
Quellen:
- Stadt Essen
- Ruhrbahn
- Buch: Dieter Hölgte: „Straßen- und Stadtbahnen in Deutschland – Band 4: Ruhrgebiet“, EK-Verlag, Freiburg, 1994
- Buch: Christoph Groneck/ Paul Lohkemper/ Robert Schwandl: „Rhein-Ruhr Stadtbahn Album 1“, Berlin, 2005
Das letzte Bild (Mischverkehr Strassenbahn / Stadtbahn) zeigt nicht Essen, sondern Mülheim an der Ruhr – Heissen Kirche.
Tolle Fotos! Vieles habe ich noch selbst gesehen. Danke!