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The Tramways of Upper Silesia – A Guidebook

Über das große Straßenbahnnetz im oberschlesischen Industriegebiet rund um Kattowitz sind in Polen bereits einige Bücher erschienen, Unkenntnis der polnischen Sprache dürfte hier aber manchen Interessenten an der Materie abgeschreckt haben. Einfacher, sich mit dem Thema zu befassen wird es nun vielleicht durch diese Veröffentlichung aus Großbritannien in englischer Sprache. Derartige „Guidebooks“, also Führer, sind eine Spezialität der britischen Vereinigung der Verkehrsfreunde LRTA, um Interessenten die Straßenbahnbetriebe einzelner Länder näherzubringen, wobei die Behandlung der Geschichte, die Darstellung der aktuellen Situation und auch Tipps für einen Besuch jeweils Bestandteil sind.

Das heute von den „Schlesischen Straßenbahnen“ (Tramwaje Slaskie) betriebene Normalspurnetz dürfte jetzt das größte zusammenhängende Straßenbahnnetz in Europa sein und kann verglichen werden mit dem deutschen Ruhrgebiet in den 1970er Jahren und jenem in der Wallonie in Belgien in den 1960er Jahren. Beide sind seither stark geschrumpft, das Netz in Oberschlesien hat zwar auch Stilllegungen über sich ergehen lassen müssen, es hat aber auch Ausbauten gegeben. Der besondere Reiz besteht durch die Streckenführung in einer von Kohleförderung und Stahlproduktion einst stark geprägten Region mit seiner Mischung aus größeren und kleineren Städten und Siedlungen, aber auch ländlich strukturierten Bereichen. Viele der Strecken sind als Überlandstraßenbahn, eingleisig mit Ausweichen am Straßenrand angelegt und bieten den Charme einer längst vergangen geglaubten Straßenbahnromantik. Dennoch modernisiert der Betreiber seit Jahren auch das Netz und die darauf eingesetzten Fahrzeuge und bietet im Bereich der Städte einen attraktiven Nahverkehr.

Die Straßenbahn in Oberschlesien ist aber auch ein Teil der deutschen Verkehrsgeschichte mit einem mehrfachen Wechsel der Zugehörigkeit vom Ende des Ersten Weltkrieges bis in die zweite Hälfte der 1940er Jahre: Zunächst preußisch, teilweise auch zur K&K-Monarchie Österreich-Ungarns gehörend, sind bestimmte Landesteile Schlesiens auch immer von polnisch sprechenden Bevölkerungsgruppen besiedelt gewesen, teilweise wurden sie von russischen Einflüssen im Osten bedrängt, teilweise aber auch von ihren deutschen Nachbarn. Dies verlief, besonders als mit der zunehmenden Industrialisierung wirtschaftliche Interessen ins Spiel kamen, nicht immer konfliktfrei, bis hin zu Aufständen nach dem Ersten Weltkrieg. Unter Regie des Völkerbundes kam es 1922, verbunden mit Volksabstimmungen, zu einer Abtrennung Ost-Oberschlesiens von Deutschland hin zu Polen, wobei die Stadtgrenze Beuthens nunmehr gleichzeitig die Grenze zwischen Deutschland und Polen bildete. Deutschland ging damit eines weiteren Teils seiner Kohlevorkommen und Stahlindustrie verlustig, nachdem im Westen schon das Saarland und Lohringen nicht mehr lieferten. 1939 okkupierte Nazi-Deutschland die zu Polen gekommenen Gebiete und vereinigte damit die Industriegebiete Schlesiens erneut, nach 1945 fielen sie komplett Polen zu. Da die Region von großflächigen Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg weitgehend verschont blieb, wird die deutsche Vergangenheit in der Bebauung auch heute noch vielerorts sichtbar. Dem Ruhrgebiet ähnlich, sind die einstigen Industrien um Kohle und Stahl in ihrer Bedeutung sehr stark gesunken, so dass neue wirtschaftliche Standbeine geschaffen werden mussten.

So bewegen sich die Straßenbahnen der Region heute in einem abwechslungsreichen Umfeld zwischen traditionsreicher Vergangenheit und zukunftsträchtiger Moderne. Nach Ende der kommunistischen Ära Anfang der 1990er Jahre hat sich in Polen der Umgang mit dem Erbe deutscher Vergangenheit radikal gewandelt und wird nun sachlich und ohne Vorurteile betrieben.

Der Inhalt dieser gut gestalteten Veröffentlichung gliedert sich in zwölf Kapitel, einen längeren Vorspann und einem Nachspann, in dem alle genannten Örtlichkeiten mit ihren Namen in Deutsch und Polnisch aufgelistet sind. Ein historischer Rückblick auf die Anfänge der Industrialisierung und des schienengebundenen Verkehrs steht am Beginn der Betrachtungen, es folgen sodann die deutsche Zeit bis zum 1. Weltkrieg, die Zeit zwischen den Kriegen mit der Teilung ab 1922 und die erzwungene Wiedervereinigung unter deutscher Herrschaft ab 1939 bis 1945. Das Kapitel über den Fuhrpark bis 1945 schließt diese Zeitepoche ab.

Der nächste Themenblock enthält die Beschreibung der Jahre ab 1945, wobei der heutige Zustand in einem groben Überblick dargestellt wird. Ein aktuelles Linienverzeichnis und eine Übersicht der Unterwerke stehen hier am Ende. Anschließend wird der Wagenpark nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute vorgestellt, jeweils mit einer kurzen Darstellung der einzelnen Typen mit Bild, aber ohne Fahrzeugstatistik und technische Daten. Eine aktuelle Bestandsübersicht samt Dienst- und historischen Fahrzeugen beschließt dieses Kapitel.

Dem schließt sich eine Streckenreise durch das Netz von West nach Ost mit Bildern und erläuternden Texten an. Am Ende des Werkes steht ein Blick in die Zukunft mit geplanten Erweiterungen aber auch eine Übersicht über alle realisierten Infrastrukturerneuerungen seit 2007.

Neben dem Text mit zahlreichen sorgfältig ermittelten Daten lebt das Werk von seinen zahlreichen Bildern, die aber meist nur in kleiner Größe abgebildet sind, was hin und wieder zu bedauern ist. Eingestreut sind auch zahlreiche Karten zur Netzentwicklung, welche eine gute Orientierung erlauben. Auch Hinweise zum Tarifangebot fehlen nicht. Spezifische Besonderheiten wie die Linienkennzeichnung und die Signalisierung der eingleisigen Strecken werden ebenfalls ausführlich beschrieben.

Ein besonderes Highlight ist der lose beigefügte, riesige Plan (im Format A 0), der einen exakten Gleisplan des Netzes einschließlich aller Depots und Werkstätten und Eintrag sämtlicher Haltestellen mit heutigem Namen zeigt. Für Interessenten an dem Betrieb und auch als Ergänzung zu eventuell vorhandener polnischer Literatur sehr gut geeignet und auch als Begleiter auf Reisen dorthin wertvoll, wenn auch aufgrund von Format und Umfang nicht für die Fototasche geeignet.

Autor: Michael Russell

240 Seiten im Format 21,0 x 29,0 cm, broschiert

mehr als 300 Fotos

Herausgeber: LRTA – Light Rail Transit Association

Preis: GBP 45,–

ISBN:  978-0948106651

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28.01.2023
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