Im schweizerischen Bezirk Jura-Nord vaudois im Kanton Waadt gibt es eine elektrische Kleinbahn, wie sie früher an vielen Orten in Europa verbreitet war: Sie stellt auf nur 3,9 km Normalspurstrecke die Verbindung der Kleinstadt Orbe mit der Hauptbahnstrecke der Schweizerischen Bundesbahn SBB in Chavornay sicher, und hat noch heute Bedeutung sowohl im Personen als auch im Güterverkehr.
Nachdem jahrzehntelang Triebwagen aus einheimischer Fertigung den Personenverkehr durchführten, zeichnete sich im vergangenen Jahr dringender Bedarf nach neuen Fahrzeugen ab. Eine vor Jahren von der Sihltal-Zürich-Uetliberg-Bahn (SZU) gebraucht gekaufte Garnitur aus Trieb- und Steuerwagen war 2020/21 ausgemustert und verschrottet worden, und der 1990 von Stadler für die Bahn neu gebaute, zweiachsige, elektrische “Schienenbus” 14 musste aufgrund größerer Schäden abgestellt werden.
Nach vorübergehenden Provisorien und Busersatzverkehr seit 20.11.2021 entschied sich die heutige Betreibergesellschaft Travys (Transports Vallée de Joux–Yverdon-les-Bains–Ste-Croix), die mehrere Linien in der Region unterhält, zur Anschaffung von zwei gebrauchten, aber sehr gut erhaltenen Zweisystem-Stadtbahnwagen. Sie hatten die ersten 28 Jahre ihres Lebens auf dem Karlsruher Tram-Train Stadtbahnnetz verbracht und gehörten ursprünglich sogar der Deutschen Bahn, bevor sie 2019 von der Albtal-Verkehrs-Gesellschaft (AVG) übernommen worden waren – nummeriert als 819 und 820. An ihrem Einsatzgebiet änderte sich dadurch aber zunächst wenig. Die Indienststellung zahlreicher Neubautriebwagen erlaubte dann aber im Juni 2022 die Abgabe an die Travys. Seit 4. Juli 2022 pendelt täglich einer der beiden Triebwagen auf der Strecke von Chavornay nach Orbe. Anfang August wurde dann auch der Fahrplan auf der Strecke noch einmal ausgeweitet, werktags gibt es nun über weite Strecken einen Halbstundentakt – zweifellos ein bemerkenswertes Angebot zur Bedienung einer Stadt mit gerade einmal 7.000 Einwohnern!
Die Chemin de fer Orbe–Chavornay (OC) betrieb die Strecke seit der Eröffnung im April 1894 von Anfang an elektrisch mit 750 V Gleichstrom – sie war damit die erste elektrische Bahn auf Normalspur im Land. Gerechtfertigt war der Bahnbau vor allem durch den lebhaften Güterverkehr zu diversen Industriebetrieben, für den auch heute noch 2 Elektro- und eine Diesellok zur Verfügung stehen. Mehrere der früher eingesetzten, zum Teil über 100-jährigen Elektro-Triebwagen für Personen- und Güterverkehr sind bis heute glücklicherweise an verschiedenen Stellen erhalten geblieben.
Von der Schweiz in die Märkische Schweiz
Im Jahr 2013 wurde eines der historischen Fahrzeuge nach Deutschland überführt. Es handelt sich dabei um den Triebwagen Bde 4/4, der 1920 mit einem baugleichen Fahrzeug in Dienst gestellt wurde. Anfang der 1950er Jahre erfolgte eine kleine Modernisierung. Der Holzaufbau wurde mit einer Blechkarosse verkleidet und die elektrische Anlage leicht modifiziert. Im Inneren jedoch findet sich der originale Zustand aus dem Jahr 1920. Dank der hervorragenden Pflege war der Triebwagen noch bis 2013 im täglichen Einsatz, ehe er durch Neuanschaffungen ersetzt wurde.
Ein privates Bahnmuseum (Familie Wymann) im schweizer Kallnach in der Nähe von Bern beherberge neben dem Triebwagen 13 eine Reihe von Einzelstücken der Schweizer Eisenbahngeschichte. Allerdings musste das Museum 2017 schließen und die Sammlung aufgelöst werden. Die Familie Wymann machte sich auf die Suche nach einem neuen Eigentümer für ein besonderes Fahrzeug und wandte sich an den Verein Museumsbahn Buckower Kleinbahn e.V. in der Märkischen Schweiz, 50 km östlich von Berlin. Die Buckower Kleinbahn selbst besaß kein Fahrzeug aus der Zeit der Aufnahme des elektrischen Betriebes im Jahr 1930. Für die Buckower Museumsbahn bat sich somit die einmalige Chance, ein historisches Fahrzeug aus der Zeit ihrer Umwandlung zu einer elektrischen Bahnlinie zu erwerben und es so vor der Verschrottung zu bewahren. Nach einer kurzfristigen Spendenaktion konnte der Triebwagen im Anfang 2017 nach Buckow transportiert werden. Er hat eine Zulassung erhalten und ist mittlerweile in einer historischen rot-weißen Lackierung auf der Museumsbahn im Einsatz.
Geplante Verlängerung
Zurück in die Schweiz: Künftig wird eine direkte Einbindung der Strecke in den SBB-Bahnhof Chavornay durch den Bau einer neuen Verbindungskurve angestrebt. Die Stromversorgung soll auf Wechselstrom umgestellt werden und durchgehende Züge von Orbe nach Lausanne angeboten werden. Da die Karlsruher Zweisystemzüge auch auch 15 kV-tauglich sind, kann die Umstellung problemlos stattfinden. Um die Zukunft der kleinen Bahn sollten wir uns also keine allzu großen Sorgen machen müssen.
31.08.2022