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Alles anders in Mülheim?

Jetzt stillgelegt: Mülheim Friedrichstr./Wilhelmstr. | © UTM/b
Gedanken zur Stilllegung der Kahlenbergstrecke der Straßenbahn

Rund um die Welt entstehen neue Straßenbahnbetriebe und neue Linien, bestehende Anlagen werden ausgebaut, modernisiert und den aktuellen Anforderungen angepasst – kurz gesagt, das System Straßenbahn befindet sich ganz klar im Aufwind. Gerade in vielen mittelgroßen Städten wird die Tram als das System der Wahl zur Attraktivitätssteigerung des ÖPNV angesehen – die so oft beschworenen ‚Verkehrswende‘ gibt hier die Leitlinien vor.

Doch nicht überall ist dies so eindeutig der Fall. Aktuell lässt eine Nachricht aus Mülheim an der Ruhr besonders aufhorchen: Der Betreiber der lokalen Straßenbahn, die Ruhrbahn, meldet:

„Parallel zum neuen Nahverkehrsplan gibt es den politischen Beschluss, den Tram-Betrieb auf dem schwach nachgefragten Kahlenbergast einzustellen. Dies betrifft die Tram 104, die von Essen kommend, mit Fahrplanwechsel an der Haltestelle Wertgasse enden wird. Die Haltestelle Wertgasse wird umbenannt und heißt von da an: „Ev. Krankenhaus“. Hier übernimmt die Buslinie 130 und kompensiert den Abschnitt. Bis zur Herstellung der neuen Kehranlage endet die Tram 104 vorerst an der Haltestelle Kaiserplatz.“ Am heutigen 6. August 2023 endet deswegen der Tramverkehr auf der sogenannten Kahlenbergstrecke zwischen den Stationen Wertgasse und Oppspring im Zuge der Linie 104 (siehe Streckenplan: https://www.urbanrail.net/eu/de/e/essen.htm) – und das, obwohl einzelne Teilstücke erst vor wenigen Jahren mit Fördergeldern saniert worden waren. Aber es verblieben noch weitere Teile, die auf die Sanierung warteten – vergeblich. Entlang der Friedrichstraße, der Kampstraße und der Bismarckstraße fahren nun Dieselbusse.

Haltestelle Wertgasse (jetzt Ev. Krankenhaus) im März 2018 – künftig ist hier Endstation | © UTM/b


Komplexe Ausgangslage

In der Stadt fährt seit mehr als 100 Jahren eine meterspurige Straßenbahn. Doch obwohl die Stadt mit einer Größe von rund 170.000 Einwohnern und einer bestehenden Infrastruktur eine sehr gute Ausgangsbasis für eine modernes, schienengebundenes Stadtverkehrsangebot aufzuweisen hat, stellt sich die aktuelle Situation als wenig befriedigend dar.

Über mehrere Jahrzehnte entstanden in der Vergangenheit Teilstücke eines kreuzungsfreien Stadtbahnsystems in Regelspur, die mit dem gewachsenen Meterspur-Tramnetz nur mit erheblichem Aufwand kompatibel sind. Diese Konzentration auf die Parameter eines kreuzungsfreien, zum Teil unterirdischen Systems nach den Richtlinien der Stadtbahn Ruhr, die über mehrere Jahrzehnte die Rahmenbedingungen für Bahn in Mülheim vorgaben, sind zweifellos eine Bürde, ziehen sie doch hohe laufende Kostenbelastungen für die bestehenden Anlagen mit sich und engen die finanziellen Spielräume der Verantwortlichen vor Ort ein.

In den vergangenenen Jahren wurde einzelne Streckenabschnitte des Tramnnetzes stillgelegt. Tatsächlich handelte es sich dabei um den Abschnitt vom Hauptfriedhof zum Flughafen Essen/Mülheim und die Zweigstrecke nach Styrum – 2012 und 2015 eingestellt -, beides Streckenteile, die in der gegebenen Form nur geringes Verkehrsaufkommen aufzuweisen hatten.

2012 stillgelegte Strecke zwischen Flughafen und Hauptfriedhof, inzwischen zurückgebaut | © Dirk Budach


Doch das allein kann sicherlich kaum erklären, warum Ausbauten des Netzes an anderer Stelle keine Priorität eingeräumt wurde und aktuell gleich gar nicht mehr ernsthaft in Betracht gezogen werden. Dazu gehört insbesondere der Bau einer neuen Strecke zum großen Wohngebiet Saarn, das seit Stilllegung der früheren Straßenbahnstrecke (in 1968) ausschließlich von Omnibussen bedient wird. Stattdessen konzentriert sich Mülheim darauf, weitere Streckenabschnitte aufzugeben, und sogar eine völlige Stilllegung des Straßenbahnbetriebs war längere Zeit durchaus eine realistische Option. Die aktuelle Stilllegung der Kahlenbergstrecke ist dabei gewiss der bisherige Tiefpunkt der Negativentwicklung am Ort.

Im Kommunalwahlkampf positionierten sich selbst die ansonsten betont ökologisch orientierten Grünen nicht gegen die Stilllegung, obwohl damit unzweifelhaft ein lokal emissionsfreies Verkehrsmittel durch ein deutlich weniger attraktives abgelöst wird und diese Maßnahme auch unter anderem Blickwinkel sicherlich kaum zu einem Wiederanstieg der über Jahre kontinuierlich zurückgehenden Nutzerzahlen im ÖPNV Mülheims beitragen dürfte. Die auch schon vor der Pandemie stetig abnehmenden Fahrgastzahlen im Mülheimer Nahverkehrsnetz stehen dabei ganz eindeutig im Kontrast zum bundesweiten Trend und ganz besonders auch zur Tendenz in sehr vielen anderen Städten vergleichbarer Größenordnung.

Wilhelmstr. | © UTM/b
Am Kahlenberg | © UTM/b


Wirklich alles anders?

Man muss kein ausgesprochener Straßenbahnliebhaber sein, um sich die Frage zu stellen, warum Maßnahmen zur Verbesserung und Attraktivitätssteigerung des Nahverkehrs hier auf so wenig wirkliches Interesse stoßen. Ist in Mülheim wirklich alles anders als in den anderen mittleren Großstädten, die so erfolgreich ihre Straßenbahnsysteme ausgebaut haben? Bei allem Verständnis für die schwierige Ausgangslage mit hohen laufenden Kosten durch „Altlasten“ in Form von wenig ausgenutzten, aber außerordentlich unterhaltungsaufwändigen Tunnelbauten ist eine wirkliche Strategie zur langfristigen Verbesserung der Situation nicht recht zu erkennen. Das im Nahverkehrsplan genannte, optimierte Busnetz bieten hier kaum ausreichende Ansatzpunkte.

Aber vielleicht ist es ja noch nicht zu spät, bis es sich auch bis nach Mülheim an der Ruhr herumspricht, dass nur ein attraktives Angebot dauerhaft mehr Fahrgäste anlockt, die Auslastung des Gesamtsystems erhöht und sich gerade dadurch die Ertragssituation des Verkehrsbetriebs auf Sicht verbessern lässt.

Bismarckstr. | © UTM/b
Ob. Saarlandstr. | © UTM/b

06.08.2023
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Rainer Nelbach
8 Monate zuvor

Traurig ist hierbei, dass eine alternative und auch vorgeschlagene Streckenführung im Schleifenmodus nicht umgesetzt wird. Weitere Streckenstilllegungen sind angesichts neuer Parallelführungen mit Busverkehr nicht auszuschließen.