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Das (vorläufige) Ende von Mailands Überlandbahnen

Enge Ortsdurchfahrten im Zuge der Strecke | © Budach

Im Norden der italienischen Metropole Mailand hielten sich bemerkenswert lange einige der einst weit verbreiteten, klassischen Überlandstraßenbahnlinien, wie sie andernorts schon vor Jahrzehnten verschwunden waren.

Seit 30. September 2022 ist nun damit vorläufig erst einmal Schluss: Die Verkehrsbetriebe ATM stellten den Betrieb auf der letzten, seit Jahren vernachlässigten Linie von der Metrostation Comasina nach Limbiate ein. Schon vorher war der Verkehr nach und nach immer mehr eingeschränkt worden, in den letzten Wochen fuhren nur noch morgens in der Hauptverkehrszeit zwischen 6 und 9.30 Uhr Züge auf der Strecke, ansonsten verwies die ATM auf den parallel verlaufenden Busersatzverkehr.

Im Zeitalter weltweiter Renaissance elektrischer Schienenverkehrsmittel kann diese Nachricht auf den ersten Blick nur überraschen: Die als Linie 179 bezeichnete Bahn durchfuhr einen recht dichten Siedlungsraum im nördlichen Mailänder Umland, und dies noch ganz überwiegend auf eigener Trasse. Bei näherer Betrachtung war und ist jedoch nicht zu übersehen, dass sich die Strecke trotz dieser Rahmenbedingungen Modernisierungsrückstand aufweist. Sie ist durchgehend eingleisig mit Ausweichen trassiert, es gibt zahlreiche, weitgehend ungesicherte Kreuzungen mit Seitenstraßen und einige enge Ortsbereiche werden in Straßenseitenlage ohne Abgrenzung zum Autoverkehr durchfahren. Das bringt naturgemäß Gefahrenpotential mit sich und führt an diversen Stellen zu recht vorsichtiger, langsamer Fahrweise.

Ortsdurchfahrt Senago im Gegenverkehr – eng, aber es passt | © Budach
Hohe Aufmerksamkeit für die Fahrer | © Budach
Das Überlandbahnnetz

Die Linie 179 ist die letzte eines einst umfangreichen Netzes im Großraum Mailand. Alle anderen Strecken wurden nach und nach auf Busse umgestellt, vereinzelt gab es auch eine Umwandlung und Integration in das Metronetz. Es verblieben seit Anfang der achtziger Jahre im Norden die sogenannten „Brianza-Linien“, als zusammenhängendes Teilnetz von 39 km Länge mit den Strecken nach Desio-Carate, Milanino und Varedo-Limbiate. Jahrelang wurde über ihre Integration in das ATM-Netz gestritten. Den städtischen Endpunkt Via Valtellina in Mailand gab die ATM 1999 auf und trennte das Netz in zwei Teile, während man beide Strecken 1999 aus dem Stadtgebiet verbannte und damit auch betrieblich trennte. Die Linie nach Carate, schon seit 1982 bis Desio verkürzt, wurde 2011 eingestellt. Sie soll umgebaut und das Tramnetz der ATM integriert werden, die Bauarbeiten gehen jedoch nur schleppend voran. Die Linie nach Limbiate hatte 12 Jahre lang gar keinen Anschluss an das übrige Schienennetz, ins Zentrum musste in Affori in Busse umgestiegen werden, was die Fahrgastzahlen dramatisch sinken ließ. 2011 wurde die Überlandtram erneut verkürzt, allerdings bis zur neuen Endstelle Comasina der bis dahin verlängerten Metrolinie M3, es besteht seither hier direkter Übergang zum Schnellverkehr in die Innenstadt.

Die Planung sieht schon seit vielen Jahren auch einen Umbau der Limbiate-Strecke in eine moderne, zweigleisige Vorortlinie und die Integration in das Stadtnetz vor, doch scheiterte sie bislang immer an der Finanzierung. Erst 2020 einigten sich die Beteiligten öffentlichen Stellen auf eine Verteilung der erwarteten Kosten von EUR 153 Mio., doch die inzwischen allerorts eingetretenen Kostensteigerungen machen Nachverhandlungen unumgänglich und lassen keinen kurzfristigen Baustart erwarten. Nachdem jahrelang (um nicht zu sagen: jahrzehntelang) nicht einmal eine schrittweise kleinere Modernisierungsmaßnahmen durchgeführt worden sind, ist der Investitionsstau nun beträchtlich. Die auch in der Unterhaltung stark vernachlässigte Strecke präsentierte sich zuletzt weitgehend unverändert im Betriebsablauf wie schon 50 Jahre zuvor. Dabei hätte man mit behutsamen Modernisierungsbemühungen natürlich längst beginnen können, um den Betriebsablauf zu beschleunigen und damit effizienter und attraktiver zu machen. Zuletzt führte der Unterhaltungsrückstand zu diversen von der Aufsichtsbehörde verhängten Langsamfahrstellen von nur 5 km/h, für deren kurzfristige Behebung die ATM mehrere Millionen EUR veranschlagt.

„Rasengleis“ zwischen Cormano und Senago | © Budach
Die Fahrzeuge

Auch der Fahrzeugpark war ist nahezu museumsreif: Sieben der sogenannten „Blockzüge“ („Treni bloccati“), gebaut in den Werkstätten der ATM in den sechziger Jahren auf der Basis älteren Wagen aus den vierziger und fünfziger Jahren, waren zuletzt im einsatzbereit. Sie bestehen aus je einem mittleren Motorwagen, dem an beiden Enden festgekuppelte Steuerwagen beigestellt sind. Die Triebwagen selbst haben keine Fahrerstände und die Züge sind damit im Betrieb auch nicht getrennt einsetzbar. Die Züge fuhren bis zuletzt schaffnerbesetzt.

Blockzug in der Ausweiche Varedo | © Budach
Die Umstellung

Der Verkehr war schon lange auf montags-samstags bis 20 Uhr beschränkt worden, seit mehreren Jahren fuhren die Bahnen dann gar nur noch zur Hauptverkehrszeit zwischen 6 und 9.30 und 16 bis 20 Uhr. Ansonsten ersetzten Busse die Bahnen.

Um den Fahrgästen die Umstellung schmackhaft zu machen, wirbt die ATM mit kürzeren Taktzeiten und damit mehr Abfahrten auf der parallel fahrenden Ersatzbuslinie 165. Tatsächlich bietet der Bus aber keineswegs eine vergleichbare Alternative, denn mangels eigener Trasse steht er schlicht und einfach häufig im Stau. Die Bahn dagegen konnte, trotz aller Probleme, diese Bereich umfahren und damit gerade zur HVZ eine deutliche zuverlässigere Verbindung anbieten.

An verschiedenen Stellen engagierte sich öffentlicher Protest gegen die Betriebseinstellung zum 30.9., doch vorerst ohne Erfolg – die ATM stellt den Verkehr wie angekündigt ein.

Neue Hoffnung?

Hoffnung besteht durchaus, sind die Modernisierungspläne doch durchaus noch nicht vom Tisch. Zudem hat die ATM bereits die Beschaffung von bis zu 30 zeitgemäßen Niederflur-Triebwagen für die Überlandlinien nach Desio und Limbiate aus dem Hause Stadler eingeleitet (wir berichteten hier: https://www.urban-transport-magazine.com/mailand-20-city-trams-und-10-ueberlandwagen-bestellt-rahmenvertrag-unterschrieben/ ). 10 davon sind bereits fest bestellt zur Lieferung bis 2024.

Wann und in welcher Form es allerdings zur Wiedereröffnung und ggf. sogar zur Verlängerung der Linien in moderner Form kommen wird, ist gegenwärtig kaum realistisch einzuschätzen.
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Aus der Historie:
Die frühere städtische Endstelle Via Valtellina in Mailand, hier 1993 | © Budach
Die bis 2011 befahrene Linie nach Desio | © Budach
Der letzte einsatzfähige Beiwagen 161, hier in Varedo 2015 abgestellt | © Budach
Im Depot Varedo abgestellte Vierachser aus den zwanziger Jahren, aufgenommen 2015. Sie waren bis 2011 in der Hauptverkehrszeit im Einsatz | © Budach
Literatur:

– Budach, D.: Anachronistisch: Was von Mailands Überlandstraßenbahnen übrigblieb, in: Stadtverkehr Nr. 10/2015, S. 43 ff.
– Klarmann, J.: Mailand: Erste Metrotranvia-Neubaustrecke eröffnet, in: Stadtverkehr Nr. 6/2003, S. 12 ff.
– Roggenkamp, H.: Die Entwicklung der Mailänder Überland-Straßenbahnen, in: Der Stadtverkehr Nr. 7/1984, S. 276 ff.
– Schulz, R.: Die Brianza-Linien der ATM, in: Der Stadtverkehr Nr. 11-12/1973, S. 368-369

03.10.2022
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