Im Norden von Berlin existiert eine Bahnlinie mit einer ganz besonderen Geschichte. Die Heidekrautbahn wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts auch gebaut, damit die Stadtbevölkerung bequem in die Nordberliner Seenlandschaft (Landkreis Barnim) fahren kann. Im Streckenplan (Bild 2) ist die ursprüngliche Linienführung in grüner Farbe dargestellt.
Meine Eltern besaßen ab 1959 in der Nähe des Haltepunktes Schildow-Mönchmühle ein Wochenendgrundstück. Von den dortigen Aufenthalten haben sich mir die wunderschönen Ausflüge mit der Bahn dauerhaft eingeprägt. Teilweise nahmen wir die Fahrräder mit, oft fuhren wir zum Wandlitzsee (Bild 1).
Lokomotiven der Baureihe (BR) 64 zogen die meist aus zweiachsigen Durchgangs-Einheitswagen mit Übergangsplattform (Bild 3, erster Wagen hinter der Lokomotive) und einem Gepäckwagen bestehenden Züge. In einigen Fällen waren aber auch Drehgestellwagen im Einsatz, die wir als Kinder begeistert „Schnellzugwagen“ nannten (Bild 3). Stadtauswärts erfolgte in Basdorf ein lästiger längerer Aufenthalt, während dem die Lokomotive zur Bekohlungsanlage und zum Wasserkran fuhr. Abends verkehrten auch Güterzüge mit Personenbeförderung (GmPs). Sägewerke, ein Möbelwerk in Klosterfelde und das Werk für Kabelrecycling in Liebenwalde [1] (u.a.)sorgtenfür einen ansehnlichen Güterverkehr.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde mit Hochdruck an einer Umfahrung Westberlins durch den Berliner Außenring gebaut [2], wobei die Heidekrautbahn vorübergehend eine wichtige Rolle spielte.
Maßnahmen zur verkehrsmäßigen Entlastung der Innenstadt Berlins begannen zwar bereits in den 20iger Jahren, allerdings querte die im zweiten Weltkrieg provisorisch gebaute, damals Güteraußenring genannte Strecke, in Teilbereichen das spätere Gebiet von Westberlin. Aus politischer und mititärstrategischer Sicht brauchte die DDR-und die Sowiet-Führung aber eine leistungsstarke, sichere und vollständige Umfahrung der damaligen Westzonen der Stadt. Die Realisierung begann 1950. Historiker vertreten die Ansicht, dass ohne dieses Bahnprojekt der Mauerbau in Berlin nicht möglich gewesen wäre.
Über die Heidekrautbahn erfolgte eine provisorische „vorab“-Fertigstellung des Berliner Außenringes im nördlichen Bereich durch den Bau zweier eingleisiger Anschlussäste an die Heidekrautbahn. Damit wurde auch eine kürzere Verbindung zum Seehafen Rostock sicher gestellt. Bei den Anschlussästen handelte sich um die Strecken nach Berlin-Karow und nach Fichtengrund (lila in Bild 1). Dies erfolgte somit ca. zwei Jahre vor der Fertigstellung des entsprechenden Abschnittes des Berliner Außenringes. Auch später wurde die Strecke Fichtengrund-Basdorf-Karow als Ausweich- und Entlastungsmöglichkeit benutzt.
Allerdings war dann die Kreuzungsstelle in Schmachtenhagen nicht mehr notwendig. Der Bereich wurde Ende der 50iger Jahre für eine Erprobungsstelle für Spurwechsel-Anlagen genutzt. Es war eine logische Folge der engen wirtschaftlichen Verknüpfungen zur Sowjetunion, dass auf diesem wichtigen Thema damals intensiv geforscht wurde. Es war jedoch wie einiges andere (z.B. automatische Mittelpufferkupplung) auch eine Endlosforschung. Aus meiner Sicht fehlte letztendlich auch der Mut und der ultimative wirtschaftliche Zwang zur serienmäßigen Umsetzung der gefundenen technischen Lösungen. Den zögerlichen Umgang mit technischen Neuerungen habe ich auch selbst in meinem Berufsleben kennengelernt [1].
Mit dem Mauerbau 1961 war es zu unserem großen Bedauern vorbei mit der guten Anbindung des Grundstückes an den Ausflugsverkehr. Der Bahnhof Wilhelmsruh befand sich im Grenzgebiet, der Hauptverkehr der Heidekrautbahn wurde zuerst nach Berlin-Blankenburg, später und bis heute nach Berlin-Karow verlegt. Auf dem „alten“ Ast fuhren bis Blankenfelde nur noch sporadisch Personenzüge, bis auch diese 1983 eingestellt wurden. Der Güter-Anschlussverkehr zum Staatsbetrieb Bergmann-Borstig (Hersteller von Kraftwerkskomponenten, aber auch von Rasierapparaten) blieb jedoch erhalten. Nach der Wende wurde dieser Betrieb erst an die ABB, dann an Alstrom verkauft und dabei erheblich verkleinert. Die frei werdenden Flächen wurden in einen Industriepark umgewandelt, in dem sich u.a. die Stadler Pankow GmbH ansiedelte. Für die Überführung neuer Züge ist der Bahnanschluss extrem wichtig.
Bis 1950 gehörte die Heidekrautbahn der Niederbarnimer Eisenbahn (NEB), die den Verkehr großteils mit eigenen Fahrzeugen abwickelte. Im Jahre 1950 erfolgte die zwangsweise Eingliederung in die Deutsche Reichsbahn, wobei im dazugehörigen Vertrag weitsichtig festgeschrieben wurde, dass bei der Wiedererlangung der Berliner Einheit neu verhandelt werden müsse. Nach der Wende ergab sich eine für das damalige Deutschland besondere Situation: Der NEB gehörte wieder die Infrastruktur, aber die Deutschen Bahn war der Betreiber.
Erst 2005 wurde die NEB Betreiber der Heidekrautbahn und setzte dabei auf dieselmechanische Dieseltriebwagen der Baureihe Talent (Bildgalerie, Bild 4). Vorher war die Strecke mit einem Kostenaufwand von 17,3 Mill. EURO saniert worden. Dadurch konnte die Fahrzeit zwischen Wandlitzsee und Berlin Karow auf für mich fast unglaubliche 21 Minuten verkürzt werden. Dementsprechend wurde dieses attraktive Angebot gut angenommen, auch von den vielen Berufspendlern. Die Fahrgastzahlen schnellten in die Höhe.
Mit dieser attraktiven Fahrzeit bietet die Region auch eine Alternative zum reinen Städtetourismus. Man kann Baden, Wandern und Radeln mit stressfreien Ausflügen in die deutsche Hauptstadt und mit Besuchen anderer Sehenswürdigkeiten verbinden (z.B. Bahnmuseum Basdorf, Kreisstadt Bernau mit einer intakten mittelalterlichen Stadtmauer, Agrarmuseum Wandlitz, Wildpark Groß Schönebeck).
Bildergalerie: aktuelle Fotos der Heidekrautbahn (zum Öffnen bitte anklicken):
Im Moment steht die Sanierung und die Wiedereröffnung des Astes nach Berlin-Wilhelmsruh auch für den Personenverkehr im Fokus. Einer der Hauptgründe ist auch der Bevölkerungswachstum. Seit der Wende verzeichnet die Gemeinde Mühlenbecker Land einen Bevölkerungszuwachs von 130,6 Prozent. Und der Zuzug nördlich von Berlin hält an. Am 11.12.2020 erfolgte der erste Spatenstich am Bahnhof Berlin-Wilhelmsruh. Die Strecke soll Ende 2024 im Stundentakt in Betrieb genommen werden. Ab 2030 soll es dann eine Verlängerung nach Berlin-Gesundbrunnen mit einer Taktverdichtung (½ Stunde) geben. Ein täglicher Güterzug wird auch eingeplant [3].
Anfang 2022 wurde ein Forschungsvertrag für die Einführung von Wasserstoffzügen zwischen den Bundesländern Berlin und Brandenburg und der NEB unterzeichnet. Somit kann mit der Beschaffung von sieben Zügen mit je 140 Sitzplätzen und der Errichtung der Wasserstoffinfrastruktur begonnen werden.
Bereits Anfang Februar 2022 wurde durch die NEB im Europäischen Amtsblatt der Lieferant der neuen Wasserstoffzüge bekannt gegeben. Es handelt sich um zunächst sechs Fahrzeuge der Type Mireo Plus H der Firma Siemens. Die Beschaffung umfasst auch die technische Instandhaltungsbegleitung sowie die Lieferung von Ersatzteilen durch den Fahrzeughersteller für den Zeitraum ab Lieferung in 09/2024 bis zum voraussichtlichen Fahrplanwechsel 12/2034.
Die Zuschlagserteilung für diesen Liefer- und Serviceauftrag ist abhängig von einer Auftragserteilung im Rahmen der vorgesehenen SPNV-Direktvergabe der Heidekrautbahn (RB27) für zehn Jahre.
Zur Zeit wird mit einem Kostenrahmen von 400.000 Euro die Wirtschaftlichkeit der Reaktivierung des Streckenastes von Wensickendorf nach Liebenwalde untersucht. Da in Zehlendorf der Neubau von Wohnungen geplant ist, soll in einem ersten Schritt der Verkehr bis zu dieser Ortschaft verlängert werden.
Literatur:
[1] Iwainsky, H.: Von der Kunst, einen Zug zu bauen. Eigenverlag, Jenbach 2018- siehe „Die Schiene“7/20 bzw. https://iwainsky.jimdosite.com/
[2] wikipedia Stichwort Berliner Außenring
[3] Wikipedia- Stichwort Heidekrautbahn, Stand 1/21
[4] Iwainsky,H: Bahnen im Berliner Umland – die Heidekrautbahn. Die Schiene (Wien) 4(2021) S.26-27
[5] Lexikon der Eisenbahn transpress 1978
28.03.2022
Dieser Verkehrsbereich ist vielen nicht bekannt. Der Autor führt durch die Geschichte bis zur Gegenwart und Blick in die Zukunft. Ein kleines Bahnnetz
mit interessanter Aktualität. Und ganz aktuell sind die neuen Züge mit Brennstoffzelle. Dort sollte man sich wohl fühlen können.