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Nach dem Scheitern des Tramprojekts: ESWE Wiesbaden testet einen Doppel-Gelenkbus von HESS

Wiesbaden Schlossplatz | © Christian Marquordt


Präsentation vor Wiesbadens Rathaus

Dienstag, 06. Juni 2023, Wiesbaden, Schlossplatz: Vor dem Rathaus der hessischen Landeshauptstadt steht ein großes grünes Fahrzeug mit einstweilen noch ungewohnten Ausmaßen. Es handelt sich um einen „HESS lighTram® 25 OPP“, der fast 25 Meter lang ist (genau 24.370 mm). Für einen zweiwöchigen Test eines solchen Busses auf Wiesbadens Straßen haben Hersteller Hess und Basels städtischer Verkehrsbetrieb BVB den Baseler Wagen 9108 zur Verfügung gestellt. Der hat rund 30.000 Kilometer auf dem Tacho, ist im Frühjahr zugelassen worden und läuft in Basel zusammen mit seinen Brüdern 9101 bis 9107 auf der Linie 50 (Basel Centralbahnhof – Flughafen Basel/Mulhouse). Die Linie ist rund sieben Kilometer lang, die Endstation am Flughafen liegt in Frankreich. Die acht Doppelgelenkbusse auf dieser Linie sind so genannte „opportunity charger“ – daher das „OPP“ in der Typenbezeichnung. Sie werden während des Einsatzes auf ihrer Linie über Pantograph nachgeladen, wobei bemerkenswert ist, dass die beiden Lademasten für die Busse auf dem Flughafen und mithin in Frankreich stehen.

Die Reden

Zur Präsentation des Doppel-Gelenkbusses waren Andreas Kowol, Wiesbadens Verkehrsdezernent, Marion Hebding, erst seit wenigen Tagen (01.06.) kaufmännische Geschäftsführerin der ESWE, und Jan Görnemann, ihr Kollege für den Bereich Technik, gekommen. Kowol erklärte, dass Wiesbaden nach dem gescheiterten Bürgerentscheid, mit dem es abgelehnt wurde, wieder eine Straßenbahn einzuführen, sich jetzt nach anderen Mögichkeiten umsehen müsse, große Fahrgastmengen zu befördern. Im letzten Jahr vor der Corona-Pandemie, 2019, habe man 61.256 Mio Fahrgäste befördert, inzwischen habe man in etwa wieder die Fahrgastzahlen vor der Pandemie erreicht, und die Tendenz sei unverändert steigend. Da gleichzeitig immer weniger Menschen den Job des Fahrers machen wollten, müsse man mit weniger Fahrern mehr Menschen in größeren Fahrzeugen befördern. „Nur so kann die Verkehrswende gelingen.“

Marion Hebding, die neue kaufmännische Geschäftsführerin, betonte, wie wichtig ausgiebige Tests eines neuen Fahrzeugtyps seien, bevor man solche Fahrzeuge ausschreibe und bestelle. Ohne eine konkrete Wiesbadener Episode zu benennen, sagte sie doch, in der Vergangenheit habe es mal eine Fehlbeschaffung gegeben, weil man sich nicht hinreichend damit beschäftigt habe, was man denn da kaufe.

Andreas Kowol, Wiesbadens Verkehrsdezernent, Marion Hebding, kaufmännische Geschäftsführerin der ESWE, und Jan Görnemann, Technischer Geschäftsführer | © Christian Marquordt

Der technische Geschäftsführer Jan Görnemann ging in seiner Ansprache auf die Frage ein, ob Doppelgelenkbusse überhaupt für Wiesbaden geeignet seien. Was er aber uneingeschränkt bejahte. Zwar sei der Doppelgelenkbus sechs bis sieben Meter länger als ein herkömmlicher Gelenkbus, doch dank der gelenkten vierten Achse (mechanische Zwangslenkung) habe er dasselbe Kurvenlauf-Verhalten wie ein herkömmlicher Gelenkbus. „Wo der herkömmliche Gelenkbus durchkommt, kommt auch der Doppelgelenkbus durch, die Kurve, die der herkömmliche Gelenkbus schafft, schafft auch der Doppel-Gelenkbus.“

Der Doppel-Gelenkbus wiegt vollbesetzt zwar fast 40 Tonnen (genau 39.282 kg). Da sich dieses Gewicht aber auf vier Achsen verteilt, lastet die einzelne Achse nicht schwerer auf der Straße als die einzelne Achse eines herkömmlichen Gelenkbusses. Befürchtungen, ein Doppelgelenkbus fahre die Straßen kaputt, sind also völlig unbegründet.  

Görnemann wies darauf hin, dass Doppelgelenkbusse von Hess schon seit geraumer Zeit als Trolleybusse in Luzern, Sankt Gallen, Winterthur, Lausanne und Zürich und als Batterie-Elektrobusse in Basel (CH), Nantes (F) und Brisbane (AUS) im Einsatz sind. Hess wisse also, was sie machten, und Komplikationen gleich welcher Art gebe es nicht.

Die Demonstrationsfahrt

Es folgte eine Demonstrationsfahrt vom Schlossplatz in der Altstadt durch Wiesbadens City zum Hauptbahnhof. Der Verfasser beobachtete vor allem das Verhalten des Hinterwagens (des dritten Wagenteils) in den Kurven. Kurz zusammengefasst: der Hinterwagen verhielt sich völlig unspektakulär, weder schwenkte er in der Kurve weit aus noch lief er ungewöhnlich weit zum Kurvenmittelpunkt hin ein.

Als Elektrobus zeigte sich der Baseler Wagen in Wiesbaden verblüffend leise. Von seinen zwei elektrischen Zentralmotoren (je einer an den beiden angetriebenen, zwillingsbereiften Achsen 2 und 3) war nichts zu hören. Dafür ließ die Klimaanlage wissen, dass sie eifrig bei der Arbeit war. Anmerkung: die beiden gelenkten Achsen 1 und 4 sind natürlich nur einfach bereift.


Nur betriebsinterne Testfahrten der ESWE

Wagen 9108 aus Basel traf am 2. Juni in Wiesbaden ein, er wird bis zum 16. Juni bleiben. Am Samstag, dem 10. Juni, können Wiesbadens Bürger ihn sich am Hauptbahnhof gründlich ansehen. Auf Linie in Wiesbaden wird er nicht kommen, weil es zurzeit noch keine deutsche Zulassung für ihn gibt. Aber Geschäftsführer Görnemann sagt: „Wir können auch so feststellen, wie wir mit ihm in der Stadt zurecht kommen, und unsere Erfahrungen sammeln.“

Das weitere Vorgehen

Der Hess Doppelgelenkbus wird jetzt zwei Wochen in Wiesbaden getestet. Anschließend werden die Testergebnisse ausgewertet. Eventuell werden auch noch Doppelgelenkbusse anderer Hersteller getestet werden. Eine Ausschreibung über derartige Busse wird es frühestens in zwei Jahren geben, dementsprechend werden Doppelgelenkbusse frühestens in drei Jahren bei den ESWE in Betrieb gehen. Der Verfasser zur kaufmännischen Geschäftsführerin: „Würden Sie jetzt ausschreiben, könnten Sie ja auch nur drei Angebote bekommen: von Hess, Solaris und Van Hool. Sonst baut ja niemand solche Busse.“ Ihre Antwort: „Der Doppelgelenkbus ist im Kommen. Bis wir die Wagen ausschreiben, wird es weitere Hersteller geben, die sich freuen, wenn sie uns solche Busse anbieten können.“    



Zu den zehn Caetano H 2 City Gold der ESWE

Ende 2021 haben die ESWE zehn Wasserstoffbusse des portugiesischen Herstellers Caetano vom Typ „H 2 City Gold“ beschafft, sich aber schon Ende 2022 nach einem Jahr entschieden, das Konzept des Antriebs von Bussen mit Wasserstoff und Brennstoffzelle nicht weiter zu verfolgen. Da standen sie nun also, zehn Caetano H 2 City Gold, und suchten jemanden, der sie haben wollte. Fünf von ihnen fanden sehr schnell eine neue Heimat in Wiesbadens Nachbarstadt Mainz bei der dortigen MVG, mal gerade auf dem gegenüberliegenden Ufer des Rheins. Was aber wird, so die Frage an Jan Görnemann, mit den anderen fünf? Görnemann: „Es gibt mehrere Verkehrsbetriebe, die diese Wagen übernehmen wollen. Wir werden sie also sehr gut gegen Höchstgebot verkaufen können.“ Wer die Interessenten für diese fünf Busse sind, kommunizierte Görnemann nicht.



Technische Daten des Modells HESS LighTram 25 Opp

Hersteller: Hess AG, Bellach / Schweiz

Typ: LighTram 25 Opp

Jahr der Erstzulassung: 2023

Länge:  24.370 mm

Breite:  2.550 mm

Höhe:   3.410 mm

Leergewicht: 25.274 kg

zul. Gesamtgewicht: 39.282 kg

Fahrgastkapazität: 206 Fahrgäste, davon: 44 Sitzplätze, 162 Stehplätze

Türen: vier doppeltbreite Türen, eine einfachbreite Tür (Einstieg beim Fahrer)

Antriebsachen ( 2 und 3): Elektro-Portalachsen von ZF

Der Hinterwagen ist mechanisch zwangsgelenkt über bewegliche Metallstäbe, die am zweiten Gelenk befestigt sind und auf die vierte Achse wirken     

Batterien: acht Module, Gesamtkapazität: 533 kWh

Reichweite: 200 km (dank Nachladung auf der Linie praktisch unbegrenzt)

Anmerkung: Vorder- und Mittelwagen entstehen als Rohbauten im Hess-Werk in Portugal und gehen dann zur Komplettierung ins Stammwerk in Bellach, der Hinterwagen wird komplett in Bellach gefertigt.   

Schlossplatz | © Christian Marquordt
09.06.2023
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