• de
  • en

Zur Zukunft des elektrischen Nahverkehrs in Kaliningrad

Kaliningrad, Ploschtschad Pobedy, die heute einzige Linie 5 mit Tatra KT4SU, hier im August 2002 | © Bernhard Kußmagk

Nach der massiven Zerstörung der ehemaligen deutschen Provinzhauptstadt Königsberg in Ostpreußen und der anschließenden Übergabe des Territoriums an die Sowjetunion 1945 begannen die neuen Autoritäten recht rasch, den öffentlichen Verkehr in der nun in Kaliningrad umgetauften Stadt wieder in Gang zu bringen. Während die einzige, kurzlebige Obuslinie (eröffnet 1943) nicht wieder in Betrieb genommen wurde, begann langsam der Wiederaufbau der Meterspurtram, wenn auch nicht in vollem Umfang vor dem Krieg. Die Bahn basierte auf einer Pferdebahn aus dem Jahr 1881, die zwischen 1895 und 1901 elektrifiziert wurde. Königsbergs Straßenbahnnetz erreichte 1937 mit 15 Linien und einer Gesamtlänge von 102 km seinen größten Umfang.

Die Straßenbahn nach 1945

Nach dem Krieg wurden einige der verbliebenen deutschen Straßenbahnwagen, die größtenteils vom örtlichen Hersteller Steinfurt gebaut worden waren, wieder betriebsfähig gemacht. Kapazitätsprobleme setzten sich bis weit in die 1960er Jahre fort, obwohl zwischen 1954 und 1966 große Serien von zweiachsigen Straßenbahnwagen und Anhängern aus der DDR geliefert wurden. 1971 begann die Lieferung von Tatra-Straßenbahnen aus der Tschechoslowakei, anfangs vierachsige Tatra T4SU und zwischen 1987 und 1990 die Gelenk-Tatra KT4SU. In den 1990er Jahren kaufte Kaliningrad weitere Tatra T4 und KT4 gebraucht von deutschen Straßenbahnsystemen in Cottbus und Halle, 1995 kamen zwei gebrauchte DÜWAG von 1963 aus Mannheim dazu.

Tatra T4SU auf der heute eingestellten Linie 8 im März 1999 | © Günter H. Köhler / Bildsammlung VDVA
Ausgemusterter Gotha-Beiwagen im Betriebshof im März 1999 | © Günter H. Köhler / Bildsammlung VDVA
Blick in den Betriebshof im März 1999 mit den beiden ex-Mannheimer DÜWG GT6 | © Günter H. Köhler / Bildsammlung VDVA

Das nach dem Krieg rekonstruierte und wiederaufgebaute Straßenbahnnetz blieb bis zum Ende der 1990er Jahre weitgehend intakt – damals waren 10 Linien in Betrieb. 1999 begann jedoch der Prozess der Reduzierung des Straßenbahnnetzes, die Tram fiel in der Gunst der lokalen Politiker, vor allem aufgrund der notwendigen, hohen Investitionen in die Infrastruktur und die alternde Flotte. Vier Linien wurden bis 2007 geschlossen. Der Prozess dauerte bis 2010 an, als nur die Strecken 1, 3 und 5 verblieben waren und eine Schließung des gesamten Systems mittelfristig nicht unwahrscheinlich war. Als Ergebnis einer langanhaltenden (und noch immer nicht abgeschlossenen) politischen Debatte wurde nun aber die Modernisierung des verbleibenden Netzes wieder in Betracht gezogen, und einige Gleiserneuerungen begannen tatsächlich. Ein einziges, modernes Niederflurfahrzeug kam 2012 vom polnischen Hersteller PESA, ihm folgte aber bis heute kein weiterer Neuwagen. Fortschritte gab es vereinzelt beim Ausbau der Straßenbahninfrastruktur, aber auch die Schließung der Linie 1 und 3 bis 2015, sodass als einzige Strecke nur die Linie 5 verblieben ist, obwohl noch etliche weitere Kilometer Gleise anderer Strecken erhalten sind und wiederverwendet werden könnten, sobald eine Sanierung tatsächlich durchgeführt wird. 24 Tatra KT4 und der einzige PESA stellen aktuell den ganzen Fuhrpark der Tram, zusammen mit einigen Werkswagen und einem der DÜWAG ex Mannheim eine Party-Straßenbahn.

Eine aktuelle Streckenkarte der Straßenbahn Kaliningrad findet sich unter: http://urbanrail.net/eu/ru/kaliningrad/kaliningrad.htm


Bildergalerie (bitte anklicken zum Öffnen)

Der Trolleybus

Heute ist das gesamte elektrische Nahverkehrssystem nur noch ein Schatten dessen, was es noch vor wenigen Jahren war. Dazu gehört bis zu einem gewissen Grad auch das Obus-System. 1975 wurden (wieder) Trolleybusse eingeführt und das Netz schrittweise auf sieben Linien ausgebaut. 2012 waren nur noch vier in Betrieb, und heute besteht das Obus-System aus nur drei, sich teilweise überlappenden Linien mit den Nummern 1, 2 und 7.

Obwohl die Flotte modernisiert wurde, stammen die letzten Zukäufe aus dem Jahr 2013, und es gibt immer noch 18 Hochflurfahrzeuge im aktuellen Fuhrpark:

9 Trolza-5275.05 „Optima“, Baujahr 2006

18 ZiU-682G-016.04, Baujahr 2009

6 VMZ-5298.01 „Vanguard“, Baujahr 2013

12 BKM 420030, Baujahr 2012


Bildergalerie (bitte anklicken zum Öffnen)

Ausblick

Wie bei anderen Ex-Städten der Sowjetunion sind die Probleme des öffentlichen Verkehrs in Kaliningrad heute im wesnetlichen eine Folge der jüngsten Vergangenheit: Nach Jahren der Vernachlässigung war das System in den 90er Jahren dringend erneuerungsbedürftig, doch fehlende Finanzmittel führten zu weiterem, raschen Verfall von Fahrzeugen und Infrastruktur. Ein ebenso rascher Anstieg des Individualverkehrs mit Privatfahrzeugen und ein harter Wettbewerb durch neue, private Kleinbusbetreiber taten ihr übriges. Glücklicherweise änderte sich jedoch die Einschätzung der Bedeutung eines funktionierenden, öffentlichen Nahverkehrssystems auch in Kaliningrad.

Die Stadtverwaltung startete in 2019 eine Umfrage unter der lokalen Bevölkerung, ob sie den Erhalt der Straßenbahn oder des Obus-Systems oder deren Ersatz durch eine große Flotte batterieelektrischer Busse favorisiert. Das Endergebnis der Umfrage wurde bislang nicht veröffentlicht, allerdings Tendenzen von Teilen, die eine Mehrheit für die bestehenden Verkehrsmittel sehen. Das Obus-System präsentiert sich aktuell in etwas besserer Verfassung als die Tram, die Flotte ist zum größeren Teil vergleichsweise modern und die Erneuerung von Teilen der Oberleitung ist im Gang. Allerdings gibt Äußerungen, dass die Stadtverwaltung eine Wiederherstellung des Straßenbahnsystems auf Kosten der Obusbetriebs befürworte. Eine offizielle Entscheidung auf politischer Ebene wurde bislang nicht bekannt gegeben. Was auch immer das Ergebnis sein mag, es bleibt die Hoffnung auf eine positive Zukunft aller elektrischen Verkehrsmittel in Kaliningrad.

Düwag Partytram 443 ex Mannheim im Sonder-Einsatz am 23.7.2013 in der Schleife Juschnij Woksal (Hbf.) | © Thomas Fischer / https://blickpunktstrab.net/
KT4D Nr. 611 ex Cottbus | © Christoph Stoss

Blick in die Historie der Straßenbahn Königsberg:
Königsberg, Kaiser-Wilhelm-Platz, in den 1930er Jahren | © Sammlung Axel Reuther
Kaiser-Wilhelm-Platz mit dem Schloss im Hintergrund | © Sammlung Axel Reuther
Königsberg Nordbahnhof in den 1930er Jahren | © Sammlung Axel Reuther
Ein Zug an der Endstelle der Linie 2 Ende der 1930er Jahre | © Peter Boehm / Sammlung Axel Reuther
Roßgärter Markt | © Sammlung Axel Reuther
09.10.2020
5 1 Stimme
Artikelbewertung
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
2 Kommentare
Älteste
Neueste Meiste Stimmen
Inline Feedbacks
View all comments
Kilian
Kilian
3 Jahre zuvor

Hallo!
Bei der letztjährigen Umfrage gab es zumindest in den sozialen Netzwerken (Facebook und VKontakte) nur zwei Antwortmöglichkeiten – entweder für Straßenbahn und Trolleybus oder für den Elektrobus. Zumindest auf diesen Seiten spricht sich eine klare Mehrheit der Teilnehmenden für den Erhalt der bestehenden Systeme aus.

Patrick Sebastian Ciomperlik

Ich finde das oberirdische Straßenbahnnetz in der Kleinmetropole Königsberg in Ostpreußen tausendmal attraktiver als auf Gummireifen wie Bus und Trolleybus.
Viele mögen in einer romantischer City leben & wohnen mit einem romantischem Straßenbahn & Historischen Altstadt & Historischen Hauptbahnhof.